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Lesende fragen Peter Schneider
Warum ist es verpönt, die Meinung zu ändern?

Warum soll ich mein Leben lang gern Schweinssülze essen, bloss weil ich sie früher mal sehr gern gegessen habe? Kehrtwenden sind zugelassen.
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Es kommt vor, dass ich meine Meinung ändere, weil sich die Umstände ändern. Das kommt nicht bei allen gut an. Warum? H.S.

Lieber Herr S. 

Stellen Sie sich vor, Sie seien Redaktor einer Talk-Show und müssten eine interessante Runde zusammenstellen. Bei diesem Casting müssen verschiedene Meinungen (vulgo: Rollen) besetzt werden.

Bevor Sie jemanden einladen, klären Sie darum in einem Telefonat ab, ob sich jemand eignet, die These «Alle Frauen sind Schlampen» glaubwürdig zu vertreten und damit den Widerpart zur bereits gecasteten Meinung «Alle Männer sind Schweine» zu verkörpern. Schliesslich soll die Sendung nicht nur unterhaltsam, sondern in der Sache auch ausgewogen werden.

Sie rufen also bei Andrew Tate an, gelangen im Laufe des Gesprächs zur Überzeugung, dass Sie genau den Richtigen gefunden haben, und laden ihn in die Sendung ein. Wären Sie da nicht auch sauer, wenn der plötzlich seine Meinung ändern würde? Meinungsstabilität gibt Planungssicherheit gibt Vorhersehbarkeit in Diskussionen, die man sich aufgrund der Vorhersehbarkeit aber auch sparen könnte.

Warum soll ich mein Leben lang gern Schweinssülze essen, bloss weil ich sie früher mal sehr gern gegessen habe?

Das ist aber nicht das Konzept von Meinungen und Meinungsänderungen, das Sie haben. Es ist auch nicht meines. Wenn Meinungen nicht bloss Einblender in Talksendungen (Panzergeneral a.D. sagt: «Panzer sind der Anfang des 3. Weltkriegs»), sondern Interpretationen der Wirklichkeit sind, werden sie auch durch neue Wahrnehmungen (der Wirklichkeit und anderer Interpretationen) beeinflusst.

Manche meiner Meinungen sind eher peripher und darum instabil, andere sind stabiler und wesentlicher für die Gesamtheit meines Denkens. Bei den instabilen merkt man es möglicherweise gar nicht, wenn man sie ändert. Warum soll ich mein Leben lang gern Schweinssülze essen, bloss weil ich sie früher mal sehr gern gegessen habe? Habe ich damit meine Meinung über Schweinssülze geändert?

Bei den stabileren Meinungen ist das anders. Es muss nicht immer ein 180-Grad-Schwenk sein, aber die Abkehr von stabilen und zentralen Meinungen kann einen natürlich selbst, erst recht aber die anderen verunsichern. Die können nämlich nicht mehr selbstverständlich voraussetzen, dass man ein glühender, aber selbstverständlich höchst kritischer und mit allen philologischen Wassern gewaschener Verfechter zum Beispiel der Psychoanalyse ist, sondern müssen auf Überraschungen gefasst sein. Für einen selbst sind solche Änderungen nicht bloss Verunsicherungen, sondern vor allem Augenöffner: Man kann etwas aus einer anderen Perspektive sehen, ohne gleich zum Renegaten oder Konvertiten zu werden, der nur einen Glauben durch einen anderen ersetzt hat.

Was man hingegen tut: eine in die Jahre gekommene Landkarte durch eine neuere ersetzen.

Der Psychoanalytiker Peter Schneider beantwortet Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an gesellschaft@tamedia.ch.