Umzug in den DschungelWarum Indonesien eine neue Hauptstadt baut
Der grösste Inselstaat der Welt verlegt seinen Regierungssitz von Java nach Borneo – in eine Metropole vom Reissbrett, die Nusantara heissen wird. Welche Chancen und Risiken birgt das für Land und Leute?
In Jakarta wird über den Verkehr gesprochen wie anderswo über das Wetter. Wie lange man zur Arbeit gebraucht hat und wieder zurück. Wann er besonders zäh fliesst, wann quasi gar nichts mehr geht. Ob man drei oder vier Stunden im Auto zugebracht hat, hinter getönten Scheiben und dabei Musik gehört, Nachrichten gesehen, sich die Zähne geputzt oder ein Kind geboren hat. Kommt alles vor.
Zehn Jahre seines Lebens verbringt ein Mensch, der in Jakarta geboren wird und dort auch stirbt, durchschnittlich im Stau, so hat es der indonesische Autor Seno Gumira Ajidarma vorgerechnet. Mehrfach wurde die Metropolregion mit ihren mehr als 30 Millionen Einwohnern als schlimmster Verkehrsmoloch der Welt bezeichnet. Aus den Aussenbezirken fahren über drei Millionen Menschen täglich in die Innenstadt, viele im klimatisierten Auto, vor Ansteckungen geschützt.
Das alles könnte in Nusantara anders werden. So heisst die neue Hauptstadt, die auf der Insel Borneo errichtet wird. Der Bau steht schon länger fest, aber erst diese Woche gab der Entwicklungsminister des Landes, Suharso Monoarfa, den Namen bekannt, den er kurz zuvor von Präsident Joko Widodo erfahren hatte. Nusantara, ein alter Begriff, der früher für die gesamte Region verwendet wurde.
Den Umzug der Hauptstadt hatte Präsident Widodo bei seiner Wiederwahl 2019 versprochen. Eine Alternative zum hoffnungslos überbeanspruchten Jakarta aufzuzeigen, war politisch geboten, denn Jakarta leidet nicht nur unter dem Verkehr, sondern auch unter Luftverschmutzung und, da es am Meer liegt und seit Jahren langsam absinkt, unter Überschwemmungen.
Natürlich verspricht man sich von der Umsiedlung der Hauptstadt nach Borneo auch wirtschaftliche Impulse für das Land. Nusantara wird zentraler gelegen sein als Jakarta. Der Inselstaat mit über 270 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern ist nicht nur das grösste muslimische Land der Welt, er erstreckt sich auch auf über 17’000 Inseln. Viele sind unbewohnt, Java hingegen, wo Jakarta liegt, beherbergt die Hälfte der Bevölkerung auf weniger Raum als Borneo.
Borneo ist Asiens grösste Insel. Dort wird Nusantara in der Provinz Ostkalimantan entstehen, etwa 2000 Kilometer von Jakarta entfernt, das Indonesiens finanzielles Zentrum bleiben soll. Die neue Hauptstadt wird dann ebenfalls an der Küste liegen, allerdings ist die Region deutlich weniger von Wetterphänomenen betroffen.
Die Corona-Pandemie hat den Bau von Nusantara verzögert, nun aber soll er mit Hochdruck vorangetrieben werden. Indonesien braucht wirtschaftliche Anreize, um sich von den vergangenen zwei Jahren zu erholen. Über 30 Milliarden Schweizer Franken sind für das gesamte Vorhaben eingeplant. Schon 2024 sollen Teile der Regierung umziehen, ein Zehnjahresplan sieht vor, dass die Regierungsgeschäfte bis 2034 komplett aus Nusantara geführt werden. Widodo wird dann nicht mehr an der Macht sein, das indonesische Wahlrecht sieht für Präsidenten nur zwei Amtszeiten vor. Nusantara wäre Widodos Vermächtnis.
Die Menschen fürchten, vertrieben zu werden
Bislang aber steht dort, wo sich bald die neue Hauptstadt befinden soll, vor allem dichter Wald. Beziehungsweise immer mehr gerodete Fläche. Das indonesische Magazin «Benar News» berichtete vor einigen Wochen von der Sorge der Einwohnerinnen und Einwohner, aus dem Gebiet vertrieben zu werden. Jubein Jafar, ein Führer der Dayak, wie man die nicht muslimische, indigene Bevölkerung auf Borneo nennt, begrüsst zwar den geplanten Umzug in das unterentwickelte Gebiet. Aber seine Leute, die schon lange in der Region leben, können häufig keine Eigentumsrechte vorweisen. Indonesien entstand in seiner heutigen Form erst 1945.
«Vielleicht können wir unser Land nicht behalten, und was wird mit unseren Ernten passieren?», fragt der 55-Jährige. In der Gegend um Sepaku, dem Nachbarort der neuen Hauptstadt, leben viele Menschen von Palmöl oder Kautschuk. Indonesien ist der weltgrösste Palmölproduzent, gerade auf Borneo wird massenhaft abgeholzt und auf Palmenplantagen umgestellt. Mehrere Tierarten, darunter der Orang-Utan, sind dadurch massiv bedroht.
«Ich habe Angst, dass wir einfach so vertrieben werden, dass sie uns sagen, wir sollen einfach umziehen und irgendwo anbauen.»
Der Bau einer glitzernden neuen Stadt inmitten des Waldgebiets könnte ihre gemeinschaftliche Lebensweise zunichtemachen, fürchten viele der 36’000 Einwohner von Sepaku. Sie haben die Regierung um eine finanzielle Entschädigung und neues Land gebeten. «Wir müssen unsere Kultur und unsere Bräuche bewahren», fordert Jubein Jafar. «Ich habe Angst, dass wir einfach so vertrieben werden, dass sie uns sagen, wir sollen einfach umziehen und irgendwo anbauen.»
Die Sorge ist begründet. Als Brasília in den Sechzigerjahren als Modell- und Hauptstadt für Brasilien gebaut wurde, hatte man zwar ein egalitäres Konzept im Kopf, ein Richter sollte denselben Lebensraum bekommen wie ein Hausmeister. Aber man vergass die Arbeiter. Die Menschen, die gekommen waren, um die Stadt zu bauen, die blieben und schliesslich vertrieben werden mussten, als die Stadt eingeweiht wurde.
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