Analyse zu den Corona-KrawallenWarum in den Niederlanden die Gewalt explodiert
Seit die Regierung wegen der Corona-Krise eine Ausgangssperre verhängt hat, erschüttern Krawalle das Land. Die Rechtspopulisten spielen als Brandbeschleuniger eine Rolle – aber nicht nur.
Brennende Autos, geplünderte Läden und Ausschreitungen: Drei Nächte hintereinander haben die Niederlande gewaltsame Zusammenstösse zwischen vorwiegend jugendlichen Gruppen und der Polizei erlebt. Während ein Bürgermeister vor einem «Bürgerkrieg» warnte, rätselt das Land über die Ursachen der Gewaltexplosionen. Auslöser waren neue Einschränkungen wegen Corona und vor allem eine Ausgangssperre, die von der Regierung verhängt wurde. Doch die Gründe dürften tiefer liegen.
Zickzackkurs in der Corona-Krise
«Das hat nichts mit einem Kampf für Freiheit zu tun», sagt Regierungschef Mark Rutte. In Enschede richtete sich die Wut des Mobs gegen ein Spital, in Urk an der Küste nahe Amsterdam gegen ein Corona-Testzentrum, und in Eindhoven wurden Polizisten mit Messern bedroht. Priorität habe jetzt der Kampf gegen die Pandemie, sagt der rechtsliberale Politiker Rutte. Nur so könne das Land die Corona-Einschränkungen loswerden und die Freiheit zurückgewinnen.
Die Regierung trägt allerdings Mitverantwortung für die geringe Akzeptanz der Einschränkungen wegen Corona. Rutte hat einen Zickzackkurs hingelegt. Anfangs war er ähnlich wie der britische Premier Boris Johnson Anhänger der Herdenimmunität und gegen harte Einschränkungen. Erst als während der zweiten Welle die Fallzahlen explodierten und das Land plötzlich viel schlechter dastand als Deutschland oder Belgien, erfolgte der späte Kurswechsel. Kein Wunder, sind die Niederlande schlecht vorbereitet. Der Start der Impfkampagne wurde verpatzt, das hoch entwickelte Land war lange einsames Schlusslicht in der EU.
Schwache Regierung
Die Unruhen haben das Land in einem kritischen Moment erwischt. Die Regierung von Mark Rutte musste vor zehn Tagen wegen eines Skandals um Kinderzulagen den Rücktritt einreichen und ist bis zu den regulären Wahlen am 17. März nur noch geschäftsführend im Amt. Die Regierung hat zu Unrecht 20’000 Familien wegen angeblichen Sozialbetrugs vor Gericht gezerrt und gezwungen, Kinderbeihilfen zum Teil über viele Jahre rückwirkend zurückzuzahlen. Die Koalition hat hier einen ideologisch verbrämten Kampf gegen werktätige Familien geführt, die für die Kinderbetreuung auf staatliche Unterstützung angewiesen sind.
Rutte, der gerne mit dem Velo zur Arbeit geht und sich überhaupt volksnah gibt, ist vielleicht einfach zu lange im Geschäft. Der 53-Jährige ist seit 2010 Ministerpräsident, wenn auch in unterschiedlichen Konstellationen. Bisher hat noch kein Skandal ihm viel anhaben können. Nicht umsonst trägt der überzeugte Junggeselle den Spitznamen «Teflon-Mark». Der Skandal um die Kinderzulagen und die widersprüchliche Antwort auf die Pandemie sorgen nun für erste Kratzer. Ein grosses Problem ist die Kommunikation. Die nächtliche Ausgangssperre wurde kurzfristig verfügt, schlecht erklärt und erinnert die Niederländer an die Nazizeit, als es so etwas das letzte Mal gab.
Fragmentierte politische Landschaft
Lange waren die Niederlande das Land mit stabilen Verhältnissen und klaren Strukturen. Protestanten, Katholiken, Sozialisten und Neutrale lebten alle in ihren Milieus nebeneinander, ein Modell – bekannt als «Versäulung». So hatte jeder seine Kirchen, Schulen, Banken und Verbände. Spätestens in den 1990er-Jahren haben sich diese Säulen aufgelöst – auch als Folge der Globalisierung und der Zuwanderung.
Heute ist die politische Landschaft fragmentiert wie nirgendwo, auch wegen des strikten Verhältniswahlrechts. Im Parlament in Den Haag sind mehr als ein Dutzend Parteien vertreten. Mit Abgeordneten auch die Parteien der Tiere, der über 50-Jährigen oder der Einwanderer. Entsprechend heterogen ist auch die Koalition der Rechtsliberalen (VVD) von Mark Rutte mit den Christdemokraten, der linksliberalen D66 und der calvinistischen Christenunion (CU). Selbst die Monarchie gibt nur noch beschränkt Orientierung: König Willem-Alexander musste während der Corona-Krise nach einem Aufschrei zu Hause einen Ferientrip mit seiner Familie in Griechenland abbrechen.
Die Rolle der Rechtspopulisten
Der Rechtspopulist Geert Wilders hat die Regierung zuerst zu härteren Massnahmen gegen Corona angetrieben, jetzt steuert er dagegen. «Wir werden alles tun, dass die Ausgangssperre nicht stattfindet», feuerte ein Exponent von Wilders Freiheitspartei (PVV) zuerst die Ausschreitungen an. Premier Rutte sperre die Niederlande zu, und man werde sich dagegen wehren, twitterte das Forum für Demokratie (FVD) von Thierry Baudet, das jugendlichere und intellektuellere Pendant zu Wilders. Es sei jetzt der Moment für die Niederländer, ihre Freiheit wiederzufinden. Baudet gehört überhaupt zum Lager der Corona-Leugner.
Nach den Ausschreitungen distanzierten sich allerdings beide Parteien von der Gewalt. Wilders legte die totale Kehrtwende hin und forderte die Regierung auf, die Armee gegen die Plünderer loszuschicken. Das seien hauptsächlich junge Männer mit Migrationshintergrund. Damit hatte Wilders, der sonst gerne für Recht und Ordnung eintritt, eine Version gefunden, die auch bei seiner ausländerfeindlichen Basis ankommt.
Der Sturm auf das Capitol
Die beiden Rechtspopulisten Wilders und Baudet sind in den Niederlanden weit weg von der Macht. Wilders Freiheitspartei ist in der fragmentierten Parteienlandschaft laut Umfragen mit gut zwölf Prozent hinter den Rechtsliberalen von Rutte abgeschlagen, aber konstant zweitstärkste Kraft. Baudets Forum hat nach internen Querelen stark an Unterstützung verloren. Die Bilder vom Sturm auf das Capitol in Washington hätten aber auch in den Niederlanden inspiriert und die Gewaltbereitschaft gesteigert, meinen Beobachter. Wilders und Baudet haben dabei längst nicht mehr das Monopol.
Auf den Plattformen der sozialen Medien haben niederländische Verschwörungstheoretiker, Corona-Leugner und andere Gruppierungen, die zum Widerstand gegen «das System» aufrufen, regen Zulauf. Dabei scheint die Gewaltbereitschaft nicht nur gegenüber der Polizei zu steigen. Das öffentlich-rechtliche Radio und Fernsehen (NOS) hat nach Übergriffen das Signet des Senders auf seinen Fahrzeugen aus Sicherheitsgründen entfernen lassen. Immer wieder war es zu gefährlichen Bremsmanövern auf Autobahnen oder zu Angriffen auf Fernsehteams gekommen.
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