Leitartikel zu den Wahlen in der TürkeiWarum Erdogan vom türkischen Volk in den Ruhestand geschickt werden könnte
Autokraten werden nicht abgewählt? Bei Recep Tayyip Erdogan könnte dies anders sein. Die Türkei stünde dann vor der Frage: Gelingt ihr ein friedlicher Wechsel?
Nun ist es also so, dass Recep Tayyip Erdogan die Abwahl fürchten muss. Bitte? Man erschrickt fast, während man es schreibt. Noch ist das nicht passiert, noch sind es sechs Tage bis zu den Wahlen. In den Umfragen ist es knapp. Vielleicht gewinnt er, vielleicht verliert er. Man müsste in der Geschichte lange suchen, um einen Fall zu finden, der sich damit vergleichen lässt: Ein Staatschef, der sich sein Land unterworfen hat, der nie mehr von der Macht lassen will, ein Autokrat also, soll sich aus dem Palast vertreiben lassen im Rahmen einer demokratischen Wahl?
Autokraten werden eigentlich nicht abgewählt. Worin auch das Missverständnis liegt, sie stünden für Stabilität. Geht ihre Zeit zu Ende, stürzen sie ihre Länder ins Chaos, weil keine geregelte Machtübergabe vorgesehen ist. Diese Probe steht der Türkei jetzt bevor, sollte die Opposition gewinnen: Schafft sie einen friedlichen Wechsel? Akzeptiert Erdogan ihn?
Aus europäischer Sicht mag die Türkei zuletzt ein hoffnungsloser Fall gewesen sein. Ein Land, in dem die Demokratie keine Chance mehr hatte. Ein Land, beinahe wie Russland so fest im Griff eines Alleinherrschers. In Wahrheit lagen die Dinge in der Türkei immer anders, selbst in den dunkelsten Jahren nach dem Putschversuch 2016, als sich Erdogan auf dem Höhepunkt seiner Macht befand. Unangefochten war er nie.
«Auch Erdogan wusste, dass er die Opposition nie ganz würde beseitigen können.»
Ja, es könnte passieren, dass dieses Land seinen Machthaber in den Ruhestand schickt. Dafür gibt es mehrere Gründe, auch historische. Die Türkei hat eine demokratische Tradition, schon im Osmanischen Reich war es eine westlich orientierte, bürgerliche Intelligenzija, die dem Sultan eine Verfassung abrang und ein Parlament. Mitten im 19. Jahrhundert war das. Später, als dem Sultan wieder der Sinn nach absolutistischem Durchregieren stand, rebellierten die Jungtürken. Und gewannen. Das war 1908.
Die Türkei hat sich, bei allen Rückschlägen, bei allen Fehlern, ihren modernen Staat selbst erkämpft. Und die heute säkular denkenden Türkinnen und Türken haben in Mustafa Kemal Atatürk, dem Staatsgründer, einen nach wie vor sehr präsenten Nationalheiligen. Einen, der 100 Jahre später immer noch ein Stück grösser ist als der grosse Erdogan.
Dieser Teil der türkischen Gesellschaft ist intakt geblieben. Atatürks alte Partei, die CHP, bekam bei den letzten Wahlen routiniert 20 bis 25 Prozent der Stimmen, nie mehr, aber auch nie weniger, dazu kam die prokurdische HDP. Auch Erdogan wusste, dass er die Opposition nie ganz würde beseitigen können. Das säkulare Denken hat sich unter ihm eher noch geschärft; die Menschen sahen schliesslich, wie der Präsident das Land islamisierte. Oder es versuchte, besser gesagt, denn Erdogans grossem Islamisierungsprojekt hat sich die türkische Gesellschaft widersetzt.
Demokratie ist hier nichts Selbstverständliches, aber sie ist eingeübt. In den kleinsten Städten von Anatolien findet man die Büros der Parteien, man findet Menschenrechtsvereine, man findet Berufskammern. Eine Zivilgesellschaft, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bilden konnte. Dazu kommen Journalisten, die unter Erdogan heftigen Angriffen ausgesetzt waren und es trotzdem noch immer fertigbringen, den Innenminister live im Fernsehen der Lüge zu bezichtigen.
Nein, eine vollkommene Demokratie war das Land nie, davon erzählen drei erfolgreiche Militärputsche. Aber das demokratische Bewusstsein ist heute vielleicht robuster als in manchen Ländern der Europäischen Union. Die Menschen gehen wählen, an der vergangenen Präsidentschaftswahl nahmen 86 Prozent der Wahlberechtigten teil. Wer nicht wählt, ist ein Aussenseiter. Auch das unterscheidet das Land von anderen Autokratien, die davon leben, dass ein Teil der Wählerschaft resigniert hat. Ach, und noch etwas gab es in der Türkei bisher kaum: Zweifel am Wahlergebnis.
Hier und da mag es mal nicht ganz sauber abgelaufen sein, das schon. Aber bisher hat keine Seite, wie in den USA zum Beispiel, den politischen Gegner des grossen Wahlbetrugs beschuldigt. In der Regel vertraut man der Auszählung. Man möchte, dass der Mann oder die Frau an der Spitze demokratisch legitimiert ist. Auch Erdogans Anhänger wollen das. Denn auch sie sehen sich als: Europäer. Auch sie sind mit Atatürks Gedankengebäude aufgewachsen, mit dem unbedingten Blick nach Westen.
Wenn man eine Türkin oder einen Türken so richtig beleidigen möchte, zählt man das Land zum Nahen Osten. Die Türkei will sich als funktionierender Staat sehen, als entwickeltes und auch als europäisches Land. Das ist tief im Selbstbildnis verankert. Dazu gehören freie Wahlen. Einem Autokraten wie Recep Tayyip Erdogan kann das unter Umständen die Laune verderben.
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