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Skurrile Gipfelnamen
Auf den Spuren des Mörders und hoch zum Misthufen

Die Flanken des Misthufens sind garstig und steinig.
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Die Tour auf den Misthufen ist blutig. Die Hand zerschnitten, das Schienbein aufgekratzt. Der Gipfel im Muotatal SZ ist ein schwieriger Geselle, seine Bergflanken sind karstig und garstig. Das scharfe Gestein reisst so manche Wunde.

Es ist, als ob der Misthufen sein Geheimnis nicht preisgeben wollte. Wir sind nämlich unterwegs, um herauszufinden, wie die 2232 Meter hohe Spitze zu ihrem Namen kam. Ganz in der Nähe, im Glarnerland, gibt es noch so einen Berg mit auffälligem Namen: der Mörder. Auch ihn werden wir erkunden. Vermutlich geht es dort noch blutiger zu und her. Jetzt aber erst mal Pflaster raus und weiter.

Der Misthufen ist wirklich kein Berg für jedermann. Weglos geht es Richtung Gipfel, es gibt keine Markierungen, man muss an manchen Stellen klettern. Im Muotatal hat es leichtere, bessere und vielleicht auch schönere Gipfel. Doch keiner von ihnen trägt einen so aussergewöhnlichen Namen.

Eigentlich wollte der Bergfotograf Cornel Suter an unserer Seite sein und uns den Misthufen – mitsamt seinem Namen – erklären. Er hat sich aber am Fuss verletzt, wir werden ihn erst nach der Reise befragen können. Dafür dürfen wir jetzt beim Aufstieg wild spekulieren.

Die letzten Meter hinauf auf den Misthufen führen über grüne Wiesen mit bunten Blumentupfern.

Und so ist für uns schon bald klar: Die Schafe sind schuld. 200 schwarze und weisse Wollknäuel ziehen gemeinsam mit uns durchs Gelände und lassen auf Schritt und Tritt etwas fallen. Zu den alpinen Herausforderungen kommt alsbald die Schwierigkeit, die vielen Häufchen zu umgehen. Wir sind eben auf einem Misthufen. Auf den letzten Metern zeigt sich der Berg sanftmütiger, über grüne Wiesen mit bunten Blumentupfern ziehen wir zur Spitze. Kein Kreuz, kein Gipfelbuch, keine stichfeste Erklärung für den Namen.

Mal schauen, was der Mörder so treibt. Wir sind weitergereist ins Sernftal GL, im Örtchen Elm gelandet und erfahren zunächst etwas über die traurige Geschichte: Im Jahr 1881 sorgte ein Felssturz für mehr als hundert Tote im Tal. Die Einheimischen hatten mit dem Schieferabbau übertrieben, der Steilhang unterhalb des Plattenbergkopfes wurde instabil, krachte ins Tal. Und dahinter lauert der Mörder. Vielleicht haben ihn die Elmer für das Unglück verantwortlich gemacht?

Auch hier entwickeln wir beim Aufstieg unsere eigene Theorie, denn wir sind erneut auf uns gestellt. Anni Brühwiler musste kurzfristig absagen. Sie hat die Enkel im Haus, was natürlich vorgeht. Als «Heimatforscherin» hätte sie bestimmt eine Erklärung für den blutrünstigen Namen gehabt. Somit steht nach der Reise ein zweites Telefoninterview an.

Auf dem Mörder sucht man vergeblich nach einem Kreuz oder einem Gipfelbuch.

Der Mörder ist einfacher als der Misthufen, aber auch nicht zu unterschätzen. Nach einem langen und mühsamen Marsch heisst es nun, den Wanderweg zu verlassen, der hinaufzieht zum Segnespass und hinüber ins Bündnerland führt. Es folgt ein sehr steiler Aufstieg über eine Wiesenflanke mit wirklich grandioser Blumenpracht. Wieder kein Weg, keine Markierung. Kreuz oder Gipfelbuch: Fehlanzeige. Es gibt immer mehr Parallelen zwischen den beiden Bergen mit den ungewöhnlichen Namen.

Das gilt auch für die beiden Täler, die mit geologischen Sensationen aufwarten können. Hier schaut man vom Mörder direkt auf die Tschingelhörner, ein Dutzend zackiger Berge. Mutter Natur hat dort das Martinsloch geformt, mit 18 Metern Durchmesser. Zweimal im Jahr scheint die Sonne genau durch die Öffnung und schickt ihre Strahlen zielgerichtet auf den Kirchturm in Elm.

Das Sonnenereignis am Martinsloch in Elm

Die Berge veranstalten hier schon länger ein Spektakel: Ältere Gesteinsplatten haben sich über jüngere geschoben. Kein Wunder, dass das Sernftal Teil des Unesco-Welterbes Tektonikarena Sardona ist. Auch im Muotatal konnten wir die kreative Schaffenskraft der Natur bestaunen: zum einen das Hölloch, mit 210 Kilometern das zweitgrösste Höhlensystem in Europa. Zum anderen den Bödmerenwald, den grössten Urwald Westeuropas.

Wie, warum und wann all diese geologischen Ereignisse vonstattengingen, kann man im Internet recherchieren. Aber auf die Frage, warum Mörder und Misthufen ihre Namen tragen, weiss das weltweite Netz keine Antwort. Auch beim Schweizer Alpen-Club (SAC) ist man wortkarg, verweist für Recherchen auf die eigene Bibliothek.

Von Kackenköpfen zum Saurüsselkopf

Was immerhin zu finden ist, ist eine allgemeine Erklärung: Erst im 19. Jahrhundert, als die Menschen den Ehrgeiz entwickelten, die Berge flächendeckend zu kartografieren, erhielten die Spitzen und Gipfel ringsum überhaupt Namen. Aufgrund unterschiedlicher Dialekte kam es zu Verwechslungen und Missverständnissen. Heraus kamen sogar Bergbezeichnungen, die wie Beleidigungen klingen: Kackenköpfe, Saurüsselkopf, Arschlochwinkl – alles offizielle Namen, die in Karten festgehalten sind.

Meist ging es aber ganz pragmatisch zu: Man benannte die Berge etwa nach der Pflanzen- oder Tierwelt, orientierte sich an Witterungseinflüssen, der wirtschaftlichen Nutzung oder den Besitzverhältnissen. Aber da waren auch kultische, mythische oder religiöse Motive.

Auf Tschinglen begrüsst das Team um Susi Zentner in der Tschinglenwirtschaft die Gäste. Die Umgebung ist einzigartig: Man befindet sich mitten im UNESCO-Weltnaturerbe Tektonikarena Sardona mit den Tschingelhörnern und dem Martinsloch, man liegt an der Strecke der Via Glaralpina und hat einen wunderbaren Blumenpfad, der zu seltenen Schönheiten führt.

Der Abstieg vom Mörder führt über die Tschinglen-Alp, wo ein Rundweg durch prächtig blühende Wiesen angelegt ist. Wanderer liegen im hohen Gras. Wer nach der Bergtour hungrig ist, lässt sich im Gasthaus eine grosse Wurst grillieren und ein Bier schmecken.

Das erste Rätsel ist gelöst

Eine kurze Umfrage unter den Touristinnen und Einheimischen ergibt aber ein nüchternes Bild: Niemand hat eine Ahnung, wie der Mörder zu seinem Namen kam. Deshalb jetzt das Telefon raus und die Nummer von Anni Brühwiler gewählt. Bald ist klar: Wir hätten noch weitergehen müssen, um dem Geheimnis wirklich auf die Spur zu kommen. Hoch zum Segnespass und hinab nach Flims-Laax. Dorthin, wo noch Rätoromanisch gesprochen wird. Der Mörder hiess früher Piz Morter, was so viel bedeutet wie: hohe Weide für Jungvieh und Schafe. Das erste Rätsel ist also gelöst.

Bleibt noch der Misthufen. Im Hotel googeln wir uns doch noch mal durch das weltweite Netz und stossen nach ein paar Umwegen auf den Misthaufen in Vorarlberg. «Der Berg verdankt seinen Namen tatsächlich dem Misthaufen, der früher in der Region in quadratischer Form vor den Bauernhöfen angelegt wurde», steht dort geschrieben. Ob Cornel Suter, der Bergfotograf, der sich am Fuss verletzt hat, auch für unseren Berg eine derartige Erklärung hat? Wir schildern ihm unsere Recherche. Er lacht kurz auf und schickt uns ein Foto. Darunter steht: «Misthufen, weil er auch so aussieht.»

Der Gipfel Misthufen trägt seinen Namen, weil er aus der Ferne wie einer aussieht.