Regime im IranSie nennen es Wahl
Ende Juni lässt das Regime der Mullahs über einen neuen Präsidenten abstimmen, sogar ein moderater Reformer darf antreten. Junge Menschen nutzen den Wahlkampf für ein wenig Ehrlichkeit.
Er hatte keine Frage, der junge Mann, er hatte was zu sagen. Und da geschah etwas für die iranische Politik eher Seltenes. Einer, der Präsident werden will, musste sich gefallen lassen, dass ihm ein Student ins Wort fiel, musste sich anhören, wie da draussen, auf den Strassen der Islamischen Republik, die Stimmung ist.
Massud Peseschkian, bei der Wahl am kommenden Freitag der einzige zugelassene Reformer, hörte zu. In den USA würden sie es Townhall-Debatte nennen, ein Politiker stellt sich den Bürgerinnen und Bürgern. In diesem Fall war es der junge Mann mit den lockigen Haaren und dem Bart, er redete sich in Rage. «90 Prozent der Jugend wollen andere überzeugen, dass sie nicht wählen gehen sollen», sagte er. Er selbst studiere nur noch, um es bald ins Ausland zu schaffen. «Dieses Land ist nicht mehr zu retten.»
Peseschkian, 69 Jahre alt, Abgeordneter und früherer Gesundheitsminister, sah den Mann an. Und hatte ihm als Antwort nicht viel zu bieten. Er werbe um die, «deren Herz für den Iran» sei. «Aber wer gehen will, den kann ich nicht aufhalten.»
Wenn dieser Wahlkampf für etwas gut ist, dann vielleicht für solche Momente der Ehrlichkeit. Sätze, die davon erzählen, wie es um den Iran steht, 45 Jahre nachdem die Kleriker den Schah gestürzt haben. Wer gehen will, der geht. Und das sind viele: Mehr als verdoppelt habe sich die Zahl der Auswanderer innerhalb eines Jahres, sagte eine Soziologin der Website Khabar. Es war das Jahr nach den Protesten im Herbst 2022.
Sie hätten die Hoffnung verloren, so die Wissenschaftlerin, «dass sich in der Regierung etwas ändert». Einerseits, was die politische Lage angeht, die Unfreiheit. Daneben findet die Wirtschaftskrise kein Ende. Vergangenes Jahr lag die Inflation bei mehr als 45 Prozent. Während das Regime sein Geld für die Hizbollah ausgibt, für die Hamas und die Milizen im Irak, verarmt das Land.
Peseschkian, der Reformer unter sechs Kandidaten, wollte sich offenbar als jemand zeigen, der zuhört. Er hat das Video von der Townhall-Debatte selbst veröffentlicht. Teile davon schafften es ins landesweite Fernsehen. Zuzuhören verspricht er denen, die wahrscheinlich gar nicht erst wählen gehen werden, deren Stimmen er aber braucht. Bei der vergangenen Präsidentschaftswahl vor drei Jahren blieben die meisten zu Hause.
Damals liess der Wächterrat, der alle Kandidaten genehmigen muss, niemanden zu, der dem Wunschgewinner Ebrahim Raisi hätte gefährlich werden können. Raisi starb im Mai bei einem Helikopterabsturz, deswegen nun die Neuwahl. Eine Wahl? Oder nur eine Show des Regimes?
Der Ideologe, der selbst vielen Konservativen zu extrem ist
In der Islamischen Republik ist der Präsident eher so etwas wie ein Premierminister. Das Staatsoberhaupt ist ein Kleriker, Ali Khamenei, der oberste Führer. Wen der Wächterrat zulässt, ist letztlich seine Entscheidung. Chamenei hätte wohl gern Saeed Dschalili als Präsidenten, einen Ideologen, der selbst vielen im konservativen Lager zu extrem ist. Er steht Chamenei persönlich nahe, allerdings hat er kaum Regierungserfahrung.
Anders als Mohammad Bagher Ghalibaf, der Sprecher des Parlaments. Ihn sehen viele als Favoriten. Er war früher General der Pasdaran, der Revolutionsgarde, und Bürgermeister von Teheran. Ghalibaf ist ein Konservativer, der sich auf populistische Sprache versteht, einer, der die Macht will. Und das mit dem Segen der Pasdaran, jenes Staats im Staat, der dem Regime militärisch das Überleben sichert und inzwischen weite Teile der Wirtschaft beherrscht.
Ghalibaf ist der Kandidat dieses Apparats. Gleich als seine Kandidatur genehmigt wurde, verhaftete die Polizei zwei Journalisten, die über Korruption in seinem Umfeld geschrieben hatten.
Nach Wahlkampf also soll es aussehen. Mit mehreren TV-Debatten, jede fast vier Stunden lang. Der einzige Kleriker unter den Kandidaten, Mostafa Pourmohammadi, schaffte es während der ersten, fast wie ein Moderater zu klingen. «Wir haben das Vertrauen der Menschen verloren», sagte er. Auf X, vormals Twitter, schrieb dazu jemand: «Fehlte nur noch, dass er Jin, Jiyan, Azadi ruft.» Frau, Leben, Freiheit. Das riefen sie 2022 auf den Strassen, als das Regime auf die Menschen schiessen liess. Eine sarkastische Bemerkung, die im Iran jeder versteht.
Pourmohammadi gehörte in den Achtzigerjahren zum «Todeskomitee», das Tausende politische Gefangene hinrichten liess. Iran Wire, ein Portal von iranischen Journalisten im Exil, entschied sich für die Schlagzeile: «Massenmörder geht als Moderater ins Rennen». Einer, der mit Pourmohammadi im Todeskomitee sass, war der verunglückte Ebrahim Raisi, aber das nur nebenbei. Momentan werden Pourmohammadi kaum Chancen zugerechnet.
Und Massud Peseschkian, dem Reformer? Dass er antreten darf, zeigt, dass der Oberste Führer eine höhere Wahlbeteiligung erreichen will. Die Menschen sollen denken, sie hätten Alternativen, so war es früher ja mal, als Reformer und Konservative gegeneinander antraten. In den vergangenen Jahren liess Chamenei, seit 1989 an der Macht, bei Wahlen kaum noch Schattierungen zu. Diesmal soll Peseschkian, so scheint es, für Spannung sorgen. Und dann soll er bitte gegen einen der Hardliner verlieren, den Chamenei sich wünscht.
Viele Iranerinnen und Iraner neigen zum Wahlboykott
Leicht hat es Peseschkian nicht. Trotz der Unterstützung ehemaliger Präsidenten wie Hassan Rohani, der bis 2021 im Amt war. Auch Peseschkian ist ein Mann der Islamischen Republik, und er weiss, dass er sich nicht allein auf Stimmen von Oppositionellen verlassen darf. Vor einigen Jahren noch hätten viele Iranerinnen und Iraner für Peseschkian gestimmt, um Schlimmeres zu verhindern. Heute neigen sie zum Wahlboykott. Ebenso wenig reichen ihm die Stimmen aus Westaserbaidschan, seiner Heimatprovinz. Er gehört zur Minderheit der Aseri.
Will Peseschkian gewinnen, wird er auch Stimmen von jenen brauchen, die mit Sicherheit wählen gehen – die wenigen, die noch ans System glauben. Wie liberal also kann sich Peseschkian zeigen, wie konservativ muss er sein? Neulich liess er in einem TV-Interview wissen, die Aufgabe des Präsidenten sei es, alles dafür zu tun, dass «die Politik des Obersten Führers wirkt». Immer wieder lobte er Ebrahim Raisi. Massud Peseschkian klang wie jemand, der auch nicht viel verändern würde.
Was er dem Land gibt, sind kurze Momente von – was? Freiheit? Offenheit vielleicht. Bei seinen Auftritten scheinen sich die Menschen sicher zu fühlen, jedenfalls sicher genug, um ihre Meinung zu sagen. Sie zeigen Plakate mit Slogans gegen die Sittenpolizei. Sie rufen Parolen. Eine nicht verhüllte junge Frau hielt eine Ansprache, in der sie erklärte, dass der Islam nicht aufgezwungen werden dürfe. Und, Frage an den Kandidaten: Was Peseschkian denn für schnelleres Internet zu tun gedenke?
Der tut zumindest so, als würde er auf sein Publikum eingehen. «Wir müssen in den Dialog mit der Jugend treten», sagte er kürzlich bei einer Rede. «Sonst werden wir nie Erfolg haben.» Wir, das Regime.
Neben Mohammad Bagher Ghalibaf und Saeed Dschalili gehört Peseschkian zu den dreien in der engeren Auswahl. Sollte am 28. Juni keiner mehr als 50 Prozent schaffen, kommt es eine Woche später zur Stichwahl. Die könnte Peseschkian nutzen, er könnte sagen: Seht, es gibt noch eine Chance auf Wandel. Aber darauf wetten würden im Iran wohl nicht viele.
In der 25. Minute des Videos, in dem der Student mit den Locken sprach, meldete sich eine Frau zu Wort. Auch sie jung, vorschriftsgemäss verhüllt, auch sie unterbrach Peseschkian. «Ihre Generation», sagte die Frau, «fand keine gemeinsame Sprache mehr mit der Regierung und begann die Revolution.» Sie meinte das Jahr 1979, das Ende des Schah. Dann fragte sie: «Meinen Sie, dass wir uns wieder in diese Richtung bewegen?» Peseschkian setzte zu einer Antwort an, wand sich, wich aus, redete und redete. Was blieb, war die Frage, die rhetorische.
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