Neues am Schauspielhaus ZürichVon Trollen und Menschen, die Grenzen ausloten
In der Schiffbauhalle ist ein Wald gewachsen und die Uraufführung von «Border», in der Regie von Christopher Rüping. Was fürs Lagerfeuer.
Der dunkle Dielenboden reicht bis zu den Füssen der Zuschauerinnen und Zuschauer in der ersten Reihe, Regisseur Christopher Rüping hat das Konzept mit der Rampe und der vierten Wand ostentativ ausgemustert. Wir befinden uns alle im gleichen Raum – in der Schiffbauhalle; oder doch am Ende der Welt, also am Rand von Witikon, wo am Saum des Waldes ein letztes, einsames Häuschen steht?
Die Grenze, die keine ist und an der sich dennoch alle die gesamten 100 Metatheater-Minuten lang den Kopf anschlagen, ist die Hauptfigur von «Border»: So heisst das Stück, welches das Schauspielhaus Zürich frei nach Ali Abbasis schwedischem Film «Gräns» (Grenze) entwickelt und jetzt uraufgeführt hat. Und Maja Beckmann springt schon zu Beginn in ihrer türkisen Adidashose und Turnschuhen locker-flockig von der einen Seite des Schlagbaums zur anderen: von der Realität in die Fiktion und wieder zurück.
Sie heisse Maja Beckmann und gebe jetzt ihre Abschiedsvorstellung. «Vielleicht hat mich ja jemand hier gesehen, zum Beispiel in ‹Medea*› oder im ‹Ring des Nibelungen› oder zuletzt in ‹Homo Faber›?» In den erstgenannten Inszenierungen hatte die 2021 zur «Schauspielerin des Jahres» gekürte Wahl-Zürcherin tatsächlich memorable Auftritte. Aber die «Homo Faber»-Aufführung ist ein Produkt der Fantasie genau wie Majas Schwangerschaft im Jahr 2019, von der sie erzählt. Oder?
Und stimmt es denn, dass Beckmann sich, wie viele Migrantinnen und Migranten, in Zürich einfach nicht daheim fühlt, oder ist auch das nur Theaterschmäh, passend zu Abbasis brutaler Story von Ausgrenzung und Einsamkeit? Hauptsächlich gehe sie nach Hamburg, «weil ich in Zürich einfach nie so richtig angekommen bin». Sie habe sich trotz der Privilegien als Ensemblemitglied stets ohne Anschluss gefühlt. Genau wie ihre Nachbarin, die gebürtige Thüringerin, die am Flughafen Zürich beim Grenzschutz arbeite und Schmuggler jage. Tina.
Schwupps, sind wir mittendrin in Ali Abbasis Film: Protagonistin Tina kann Angst und Schuldgefühle riechen und entdeckt für die Zollbeamten Drogen, Schwarzgeld, Kinderpornografie, versteckte Menschen. Auch sie lebt isoliert. Ihr allerdings hat die Natur die Grenze sozusagen ins Gesicht gepflanzt, anders als der hiesigen Tina, gegeben von Wiebke Mollenhauer: Die Oscar-Jury hatte die Maskenbildner, die der schwedischen Filmschauspielerin Falten, kleine Augen, eine klobige Nase und schiefe Zähne ins Gesicht hineingewirkt hatten, 2018 für den Make-up-Preis nominiert.
Der Zürcher Tina wurden zwar die Augenbrauen weggefärbt, und sie trägt einen ellenlangen Unisex-Vokuhila-Schnitt, der sie zwischen Proll-Klischees der 1990er und Elfen-Fantasy verortet (Kostümbild: Ulf Brauner). Aber Kinoschauder kann und will Theater nicht; und wenn Tina klein und zart in dem grossen Sessel mitten auf der leeren Bühne versinkt, sich verkriecht in ihr kindliches Supermario-T-Shirt, will man sie bloss trösten. Fast wäre damit Maja Beckmanns Plan aufgegangen, Tina in die Zürcher Gesellschaft zu integrieren.
Doch Tusch, und ein hinreissender Legolas singt sich ins Zentrum der Aufmerksamkeit, mit wehendem Umhang, obligatem Vokuhila und elfischer Unverfrorenheit: Benjamin Lillies Wesen der anderen Art nimmt uns das Trösten aus der Hand und aus dem Herzen und zaubert aus den Dielen, mithilfe einer Heerschar trampelnder Trolle, einen Wald samt Teich (das grossartige Bühnenbild schuf Peter Baur). Die rächende Natur überwuchert die Stadt, Welt wird Wald, und der Elf empfiehlt Tina, das Publikum zu vergessen; und die schwatzhafte Freundin Maja gleich dazu. Er verrät ihr: «Du bist ein Troll.»
Tina habe als Trollkind mit ihren Eltern im Wald gelebt, behauptet er. Die Menschen hätten sie ihren Angehörigen entrissen, ihr den Trollschwanz wegoperiert, die Eltern in der Psychiatrie interniert. Tinas Schicksal erinnert an die geschlechtlichen Zwangsanpassungen von intersexuellen Menschen wie auch an das schweizerische Projekt «Kinder der Landstrasse», in dem Fahrenden die Kinder weggenommen wurden. Und an viele ähnliche Versuche auf aller Welt, Menschen, die nicht der Norm entsprechen, ihrer Grundrechte zu berauben; sie für die Mainstream-Formate buchstäblich zurechtzuschneiden.
Wenig später heisst es jedoch: «Ist einfach nur irgendne Geschichte. Ein Märchen.» Dieses – nicht gerade originelle – Spiel mit der Gemachtheit des Theaters wird am Anfang des Abends noch humoresk durchgeführt, etwa, wenn Tina unter den Zuschauern nach Steuerhinterziehern schnüffelt; mit der Zeit fällt es härter aus. Hat Tina Majas (fiktionales) Baby entführt, alternativ aufgezogen oder ermordet oder in Wahrheit nie angefasst? Oder wars eh nur eine Puppe, der Traum von einem Kind?
Regisseur Rüping hat den drei Schauspielenden – der vierte im Bunde, Thomas Wodianka, fiel verletzungshalber kurzfristig aus – die Freiheit gegeben, die selbstreflexiven Kantengänge mal auf Zehenspitzen, mal brachial zu absolvieren. Und dank der phänomenalen Präsenz der drei fühlt man sich dabei bestens unterhalten, wenn auch nicht wirklich berührt, derweil einem das Programmheft die ethischen Ansagen dazu souffliert.
Es ist dort die Rede vom grenzüberschreitenden «Erlebnis der Gemeinsamkeit», vom Platz für «das Fiktionale, Nicht-Konforme», von der Auszeit vom «radikal rationalen Diesseits». Und nicht zuletzt wird zerknirscht geklagt, dass «den Ausschluss ja wir Wohlsituierten praktizieren», auch das hochsubventionierte Schauspielhaus. «Wir müssen damit aufhören!», ruft das Programmheft. Die Inszenierung ruft das nicht. Sie frotzelt es eher irgendwie, während Adele «Someone Like You» intoniert und die Chose, lustvoll und gespickt mit Höhepunkten, in eine Lagerabend-Beliebigkeit hineindiffundiert. Da sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht.
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