«Ödipus» am Schauspielhaus ZürichDie Tiere sterben herdenweise, und wer ist schuld?
Nicolas Stemann inszeniert Sophokles «Ödipus Tyrann» minimalistisch und wuchtig zugleich. Die beiden Schauspielerinnen kassierten stehende Ovationen.
Plötzlich diese schlichten Gitarrenakkorde und diese zarte Folk-Stimme aus dem Off: Laura Marling richtet in ihrem Song «What He Wrote» (2010) das Rampenlicht auf eine Frau, die ihrem Kerl nicht verzeihen kann, dass er in den Krieg zog, sie weinend zurückliess und ihr damit die Zunge für jedes gute Wort herausschnitt. Nichts ist ihr geblieben, sie ist gebrochen. Er auch.
Was für ein Tonlagen-Wechsel, den Regisseur Nicolas Stemann da in seine Inszenierung von «Ödipus Tyrann» hineindirigiert hat: Was für eine Sanftheit nach dem harten Moment der Erkenntnis! Denn eben noch durchdrang ein überdimensionales Tinnitus-Sirren unsern Kopf wie ein heisses Messer, das durch Butter geht (Musik: Nicolas Stemann). Und Patrycia Ziolkowskas König Ödipus vorn an der Rampe wurde endlich klar, dass er tatsächlich unwissentlich seinen Vater getötet, seine Mutter geehelicht und geschwängert hat.
Alle drücken sich vor Verantwortung
Diesen Anblick der Wahrheit erträgt der König von Theben bekanntlich nicht – und blendet sich selbst. «Nie sehen mehr, so riefst du, während du dir immer wieder mit der Nadel in die Augen stachst und bohrtest», erinnern sich seine Töchter Ismene und Antigone, Patrycia Ziolkowska und Alicia Aumüller: beide in Schwarz, mit tiefem Rückendécolleté, das die verletzliche Haut preisgibt, und in Turnschuhen, gerüstet für den knapp zweistündigen Textmarathon. Sie sind es, die uns im Pfauen durch Sophokles’ Drama «Ödipus Tyrann» (ca. 429 v. Chr.), führen: «Wir waren dabei, so müssen wir erzählen, davon, wie du, Ödipus, schuldig nicht warst, sondern erst wurdest – und nicht nur du, auch all die andern.»
Alle Menschen drücken sich vor Verantwortung, laden Schuld auf sich: Das ist die Botschaft, die Stemanns Inszenierung unumwunden in jede Minute hineinhaut. Entsprechend geben die beiden Schauspielerinnen, postdramatisch und geschlechterchangierend, sämtliche Rollen: die Töchter und den Chor, König Ödipus und seinen Schwager Kreon, seine Frau Iokaste, den Hirten. Zudem sprechen sie die Zuschauerinnen und Zuschauer direkt an: «Die Pflanzen tragen keine Früchte mehr, du bist schuld. Die Tiere sterben herdenweise in den Ställen, du bist schuld. Und die Flüsse reissen ganze Häuser nieder, du bist schuld.» Nicht recht motiviert ist da höchstens, dass die wechselnde Rollenzuteilung im Lauf der Inszenierung heruntergefahren wird.
Genau, die Genderdebatte raunt. Intendant Nicolas Stemann hat nicht bloss übersetzt und inszeniert, sondern er hat seine Gegenwartskritik hineingetextet.
So also predigen, spotten, hauchen und brüllen, spielen die zwei: Jeder Mensch blendet seine eigene Schuld aus, in die er sich mit der Zeit hat hineinfallen lassen durch Nichtstun, durch Wegschauen. Man steht blind vor den persönlichen Abgründen wie die Schauspielerinnen hier vor dem eisernen Vorhang, der die Vorbühne von dem schwarzen Fond trennt. Nur selten hebt sich das undurchdringliche Eisending, Nebel zieht auf – und der Schrecken der Schuldhaftigkeit zeitweise über die Menschen hinweg, die meist als Selbstdarsteller unterwegs sind, als Fassade ihrer selbst.
Bühnenbildner Stemann setzt auf symbolträchtigen, monumentalen Minimalismus. Und ja, am Ende wird auch das mitschuldige Publikum geblendet werden, angestrahlt werden von gleissenden Spots. Selbst der riesige Lüster, der jede Schuld ausleuchtet und an dem sich Königin Iokaste aufhängen wird, sinkt zwischendurch hinab, schaukelt über unsere Köpfe.
Überwältigende Schauspielerinnen
Wäre die Leistung von Patrycia Ziolkowska und Alicia Aumüller nicht grossteils schlichtweg überwältigend, müsste man sich angesichts so viel priesterlicher, Seher-hafter Zeichensprache wirklich die Augen zuhalten. Aber Ziolkowska fesselt als Ödipus, der mit sich selbst ringt, mal den Macho und Superdetektiv ausprobiert, mal das hilflose Kind. Aumüller wiederum gibt Ödipus’ Frau und Mutter Iokaste Grösse und einen Nachruf. Denn Iokaste hat, anders als Ödipus, «kein Theaterstück bekommen, um von ihrem Schmerz zu erzählen, nur ein paar Szenen mit wenigen Repliken, ging es doch immer nur um ‹den Menschen›, mit dem eben nicht sie gemeint war, nur mitgemeint».
Genau, die Genderdebatte raunt. Intendant Nicolas Stemann hat nicht bloss übersetzt, inszeniert und die Aufführung optisch wie musikalisch ausgestattet, sondern er hat, etwas unauffälliger als sonst, seine Gegenwartskritik hineingetextet und auch sein Faible fürs Kabarettistische. «Warum seid ihr hier?», fragt uns etwa sein Ödipus – und der Abend beschert leider keine eindeutige Antwort, aber viel berechtigten Jubel für die Schauspielerinnen. Seit 3000 Jahren, so nölt Ödipus, werde die Story verbreitet, dass er schuld sei daran, dass Theben von Dürre, Pest und Armut heimgesucht wurde – weil sein Verbrechen, der versehentliche Totschlag am Vater und die Folgen, ungesühnt geblieben sei. «Ein klassisches Vorurteil!»
Keine Frage, ohne Gelächter wärs kein Stemann. Da ist vom kalauernd doppeldeutigen «Schneeflöckchen, Weissröckchen» (über Iokaste) übers ironisch-poetische «Jedem Unheil wohnt ein Ausweg inne» bis zum gleichgültigen «Schönen Tag noch», mit dem der Seher Teiresias den am Boden zerstörten Ödipus verlässt, alles dabei, was es braucht für die witzige Brechung im Weh. Dafür bleiben die aktuellen bissigen Gewissensfragen – wie viel Schuld trage ich am Klimawandel? An der sozialen Ungerechtigkeit, lokal und global? An Fischsterben und Tierleid? Und an den Kriegen anderswo? – unausgesprochen; quasi stumm schreiend angedacht. «I wept for my life», singt Laura Marling.
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