Von der Paella zu Seat
Alternative Antriebe boomen. Doch auch jenseits der Antriebe werden «Alternativen» im Automobilbau immer wichtiger. So entwickelt die spanische VW-Tochter Seat Fahrzeugteile aus Reishüllen.

Reis ist das beliebteste Nahrungsmittel der Welt und die Grundlage der spanischen Paella. Kein Wunder also, dass ausgerechnet die spanische VW-Tochter Seat daran glaubt, die Automobilindustrie mit Reishüllen zu revolutionieren. Denn Seat testet derzeit im Rahmen eines Pilotprojekts den Einsatz von Reishülsen als Rohstoff für Fahrzeugteile. Die Basis dieses Pilotprojekts bildet der neue, umweltfreundliche Kunststoffersatz Oryzite. Damit möchten die Spanier ihren ökologischen Fussabdruck weiter verbessern und eine nachhaltige Alternative zur Verwendung von Kunststoff in ihren Fahrzeugen entwickeln.
Hintergrund: Jedes Jahr werden weltweit mehr als 700 Millionen Tonnen Reis geerntet. Beim Schälen des Reises fallen etwa 140 Millionen Tonnen Reishülsen ab, die bislang meist als wertloses Nebenprodukt entsorgt wurden. Nun hat das spanische Unternehmen Oryzite genau für dieses pflanzliche Produkt eine nachhaltige Verwendung gefunden. «Die Genossenschaft der Reisproduzenten in Montsìa in Katalonien hat Erträge von rund 60’000 Tonnen Reis im Jahr», rechnet Geschäftsführer Iban Ganduxé vor. «Bis jetzt wurden die Reishülsen – etwa 12’000 Tonnen im Jahr – einfach verbrannt. Also haben wir uns Gedanken gemacht, wie man diesen rein pflanzlichen Rohstoff verwerten könnte, und haben Oryzite entwickelt – ein Material, das mit anderen hitzestabilen und thermoplastischen Verbundstoffen vermischt und geformt werden kann.»
Weniger Kunststoffe
Dieses neuartige Rohmaterial wird derzeit auf seine Tauglichkeit für die Fertigung von Ausstattungselementen für den Seat Leon getestet. «Wir sind immer auf der Suche nach neuen Materialien, die unsere Fahrzeuge nachhaltiger machen», erklärt Joan Colet, Ingenieur der Entwicklungsabteilung für Innenausstattung. «Durch die Verwendung der Reishülsen hoffen wir, den Anteil an Kunststoffen und erdölbasierten Rohstoffen in unseren Fahrzeugen künftig deutlich reduzieren zu können.»
Im Rahmen des Pilotprojekts wird ein Material getestet, das aus den Reishülsen, Polyurethanen und Polypropylen besteht. Dabei erproben die Spanier mit dieser Mischung vorerst die Fertigung von Fahrzeugteilen, die bislang rein aus Kunststoffen bestehen – beispielsweise Teile der Heckklappe, der doppelte Ladeboden oder der Dachhimmel. «Äusserlich lassen sich die neuen Fahrzeugteile nicht von den konventionellen unterscheiden», erklärt Joan Colet. «Durch ihre Leichtbauweise wiegen sie allerdings deutlich weniger, und so reduziert sich auch das Gewicht des Fahrzeugs, wodurch wiederum der CO2-Ausstoss sinkt.»
Derzeit testen die Spanier, wie gross der Anteil an Reishülsen sein kann, um ein möglichst leichtes Produkt herzustellen, das dennoch allen technischen Anforderungen und Qualitätsstandards entspricht. Der doppelte Ladeboden wird beispielsweise Belastungstests mit Gewichten von bis zu 100 Kilogramm unterzogen, um die Steifigkeit und Festigkeit zu prüfen. In der Klimakammer finden zudem thermische Versuche statt, um die Hitze-, Kälte- und Feuchtigkeitsbeständigkeit des neuen Materials zu testen. «Wenn die Prototypen unseren strengen Anforderungen gerecht werden, dann sind wir einen Schritt näher an der Serienproduktion», erklärt Colet.
Hanf, Rattan und PET
Einen Schritt weiter sind verschiedene Marken, die beispielsweise seit längerem Dämmmatten aus nachwachsenden Rohstoffen oder rezykliertem Abfall herstellen. Dabei sind faserige Pflanzenarten wie Hanf, Sisal, Flachs oder Banane besonders beliebt. In neuerer Zeit auch Kenaf (Hibiscus cannabinus), ein tropisches Gewächs aus Thailand, Indien und China, das Toyota erstmals eingesetzt hat. Es wird heute unter anderem auch bei BMW, Ford, Mercedes, Opel und VW verwendet. Ford verwendet für Türinnenverkleidungen mit Kenaffasern verstärktes Polypropylen (PP), und die Hutablage besteht aus PP und Holzfasern. Türverkleidungen werden teilweise mit Flachsfasern verstärkt, und rezyklierte Baumwolle wird in fast allen Modellen zur Isolierung verwendet. Ford nutzt die Bio-Bauteile auch, um die Abhängigkeit vom Rohöl zu verringern und Gewichtsvorteile zu erzielen. Der Bio-Kunststoff PLA beispielsweise lässt sich aus der Stärke von Getreide, Zuckerrüben oder Schilf gewinnen.
Während verschiedene Marken Sekundärrohstoffe beispielsweise aus recycelten PET-Flaschen verarbeiten, kommt in der Mercedes-Studie AVTR in vielen Zierelementen Rattanholz zum Einsatz, und BMW verwendet in den Interieurs der Modelle i3 (und bis vor kurzem i8) diverse nachhaltige Materialien wie geöltes Eichenholz und das Leder im Fond soll dank Olivengerbung komplett schadstofffrei sein. Stoffsitzbezüge bestehen ebenfalls zu grossen Teilen aus PET-Rezyklat, und die Fussmatten können laut BMW nach dem Einsatz im Fahrzeug zu 100 Prozent wieder in den Materialkreislauf integriert werden.
«Vegane» Interieurs im Kommen
Auch Skoda zeigte in der SUV-Studie Vision IN im Februar auf der Motor-Show in Delhi vegane Verkleidungen an Boden und Dach. Konsolen und Sitzbezüge bestehen aus Leder, das mit Eichenextrakten oder mit Rhabarber statt mit Chemikalien behandelt wurde, und die Fussmatten sind aus «Ananasleder», das aus Blättern der Tropenfrucht hergestellt wird.
Dieser Trend zu alternativen Rohstoffen macht auch vor der Luxusklasse keinen Halt: Land-Rover-Designchef Garry McGovern setzt bei neuen Modellen nicht die Version mit Ledersitzen an die Spitze, sondern eine nachhaltigere Variante mit Stoffsitzen. Ausserdem gibt es bei Jaguar Land Rover Teppiche und Dämmmaterial aus der rezyklierten Nylonfaser Econyl, die der italienische Kunstfaserspezialist Aquafil aus Kunststoffabfällen aus dem Meer oder von Deponien herstellt. Und Continental macht Versuche mit Reifen, in denen Naturkautschuk teilweise durch russischen Löwenzahn ersetzt wird.
Weil dieser Trend zu neuen, nachhaltigen Materialien (noch) nicht allen schmeckt und konservative Kunden oftmals Bedenken äussern, gibt es bei einigen hochpreisigen Herstellern die Wahl zwischen «normalen» und «veganen» Interieurs.
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