Verkehrte SportweltGnade statt Rekord – und trotzdem gibt es Kritik
Die Footballer der Miami Dolphins verzichten in den letzten Sekunden auf ein Feldtor und lösen damit eine Debatte aus: Wie weit darf man seinen Gegner schonen?
Sie hätten Geschichte schreiben können. Einen Rekord brechen, der seit 57 Jahren besteht. Der fast genauso alt ist wie die Liga selbst. Sie hätten dazu nur ihren Kicker aufs Feld schicken müssen, und der hätte den Job mit grosser Wahrscheinlichkeit erledigt an diesem besonderen Tag, an dem ihnen auch sonst alles andere gelungen war.
Ja, das hätten die Footballer der Miami Dolphins tun können. Sie hätten dadurch vermutlich nicht nur 70:20 gegen die Denver Broncos gewonnen, sondern 73:20. Mehr als 72 Punkte in einem Spiel hat in der US-Profiliga National Football League noch nie ein Team erzielt.
Aber Miami verweigerte den Kick mit 33 Rest-Sekunden auf der Uhr. Stattdessen kniete Spielmacher Mike White nieder und gab so den Ballbesitz noch einmal an den Gegner ab. Eine halbe Minute später war das Spiel zu Ende, und die Dolphins feierten einen Kantersieg, wie es ihn ganz selten gibt in dieser grundsätzlich recht ausgeglichenen Liga. Aber eben nicht den Uralt-Rekord.
«Wir sind nicht dazu da, Rekorde zu brechen. Wir sind dazu da, Spiele zu gewinnen und das Playoff zu erreichen», rechtfertigte sich Trainer Mike McDaniel hinterher. «Ich stehe zu diesem Entscheid. Man nennt das Karma, und ich will, dass die Miami Dolphins ihr gutes Karma behalten.» Seine Teamleader hätten ihn dabei unterstützt. Verschiedene seiner Spieler haben in diesem Spiel auch so 13 individuelle Rekorde gebrochen oder eingestellt.
Ein Mantra im US-Sport ist aber, dass man den Gegner nicht noch unnötig demütigt. Das Niederknien ohne Raumgewinn ist in der NFL üblich, um die Uhr auslaufen zu lassen, wenn man ohnehin vorne ist. In der Basketball-Liga NBA gilt das ungeschriebene Gesetz, dass man nicht mehr angreift, wenn man in Führung liegend in den letzten Sekunden nochmals den Ball erhält. Weitere Sportarten kennen eine «mercy rule»: Diese Regel beendet ein Spiel offiziell, wenn eine Mannschaft eine gewisse Punktzahl oder Punktedifferenz erreicht hat. Es gibt auch Sportarten, in denen ein Team aufgeben kann, Curling zum Beispiel.
Aus diesem Grund wurde McDaniel hinterher gleich doppelt kritisiert. Zum einen von eigenen Fans, die sich den Rekord gewünscht hätten für eine Franchise, die in ihrer jüngeren Geschichte nicht besonders viel gewonnen hat. Zum anderen von Experten, die fanden, dass Miami nicht einmal diese 70 Punkte hätte erzielen dürfen. Dass McDaniel seine besten Spieler früher hätte vom Feld nehmen und damit nicht bis zum vierten Viertel warten sollen. Die innere «mercy rule» aktivieren also.
Auch nach dem 5:0 schossen die Deutschen weiter Tore
Im internationalen Fussball ist eine solche weniger üblich. Als Deutschland im Halbfinal der WM 2014 gegen Gastgeber Brasilien nach 29 Minuten 5:0 führte, warnte Trainer Joachim Löw vor einem Nachlassen. Sein damaliger Mittelfeldstar Toni Kroos erinnerte sich später: «Er war total angespannt und ernst. Wir sollten seriös weitermachen, nicht irgendjemanden verarschen und das vernünftig zu Ende spielen, trotz des unglaublichen Spielstandes.» In der zweiten Halbzeit schoss Deutschland zwei weitere Treffer und gewann 7:1.
«Ist es respektlos, noch ein 13. Tor zu wollen?», hatte auch der «Spiegel» gefragt, und zwar 2019. Da hatten die US-Fussballerinnen an der WM gegen Thailand auch in der zweiten Halbzeit den Ball jeweils noch aus dem Tor geholt, damit schnell wieder angespielt werden kann. So wie es in der Regel nur Teams tun, die zurückliegen und ein Anschlusstor erzielt haben.
Trainerin Jill Ellis entgegnete der Kritik: «Ich halte es sogar für respektvoll, bis zum Schluss mit voller Kraft zu spielen. Es ist nicht meine Aufgabe, meine Spielerinnen zu bremsen.»
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