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Vergewaltigungsfall in Chur
Wie eine Richterin einen Richter arg in Bedrängnis bringt

Das Verwaltungsgericht Graubuenden, aufgenommen am Mittwoch, 30. Oktober 2024, in Chur. (KEYSTONE/Gian Ehrenzeller)
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In Kürze:
  • Ein ehemaliger Richter in Graubünden steht wegen Vergewaltigungsvorwürfen vor Gericht.
  • Das Opfer beschreibt ein ungleiches Machtverhältnis zwischen ihr und dem Richter.
  • Der Beschuldigte bestreitet die Vorwürfe und behauptet, alles sei einvernehmlich gewesen.
  • Schliesslich sandte der ehemalige Richter auch einen Drohbrief an das Opfer.

In Chur ereignet sich an diesem Donnerstag etwas juristisch Hochbrisantes und auch etwas sehr Seltenes.

Ein Richter muss vor eine andere Richterin treten. Wobei das nicht ganz zutrifft. Der Mann trat 2022 von seinem Amt als Verwaltungsrichter zurück, weil er wegen einer Vergewaltigung angeklagt wurde. Er soll seine damalige Praktikantin 2021 sexuell genötigt, mehrfach sexuell belästigt und dann auch bedroht haben, was dem Fall eine zusätzliche Wendung gab.

Der ehemalige Richter nimmt vor dem Regionalgericht Platz, er trägt auffällig informelle Kleidung, Sakko, Jeans, bunte Socken und weisse Turnschuhe, so ganz anders als das Richtergremium vor ihm.

Er sitzt zusammengesunken in seinem Stuhl, er knetet seine Haut im Gesicht, die Situation scheint ihm ziemlich unangenehm zu sein, man sieht das. Als er zu sprechen beginnt, macht er das so leise, dass ihn die Anwesenden kaum verstehen. Die Gerichtspräsidentin erinnert ihn mehrmals daran, doch bitte etwas lauter zu sprechen.

Praktikantin sieht sich «ganz unten» in der Hierarchie

Die einstige Praktikantin hat zuvor einen anderen Mann beschrieben, keinen, der zusammengesunken in einem Stuhl sitzt, sondern einen selbstbewussten Juristen. Sie beschreibt ihn als Mann mit sehr gutem Ruf. Einen Mann auch, der im Kanton auch in der Politik sehr viele Leute kennt. Sie erzählt von starken Hierarchien am Gericht. «Der Richter ist ganz oben und die Praktikantin ganz unten.» So sei es auch ganz normal gewesen, dass sie das Geschirr aus der Abwaschmaschine geräumt habe.

Sie beschreibt den Beschuldigten aber auch als Mann, der sehr schnell «wüst» über andere Personen sprach, die er nicht mochte. «Ich wollte nicht zu diesen Leuten gehören und es mit ihm verscherzen. Ich wollte ohne Aufsehen mein Praktikum machen. Graubünden ist ja sehr klein.»

Das ist das Umfeld, in dem sich das Verhältnis der beiden im Herbst 2021 immer mehr intensiviert. 

Komplimente und Zweideutigkeiten

Die beiden führen ihre fachlichen Gespräche im Büro des einstigen Richters, was am Verwaltungsgericht üblich sei. Sie fühlt sich geschmeichelt, dass ein Richter mit ihr Fälle bespricht. Er wiederum beginnt, ihr Komplimente zu machen, viele davon sind zweideutig. Er versucht, sie anzufassen, und lädt sie zum Beispiel ein, sich auf seinen Schoss zu setzen.

In der gleichen Zeit schreibt der Richter ihr etliche Kurznachrichten. Er bedauert darin ihre Vernunft und dass er es nicht mehr aushalte, dass er den ganzen Schnee schmelzen könne, dass er sie wolle. Einmal bezeichnet er sie als «verdammt gefährlich».

«Ich konnte die Situationen nicht einschätzen», sagt die damalige Praktikantin, sie sei völlig verunsichert gewesen, wie sie darauf reagieren solle. «Ich fragte mich: Bin ich die junge Frau, die übertreibt?» Sie erzählt ihrem Umfeld davon, das ihr rät, freundlich zu bleiben, aber ihn abzuweisen. «Ich versuchte es auf die Witzebene zu bringen, um das Sexuelle zu vermeiden.»

Manchmal ignoriert die Praktikantin die Nachrichten, manchmal schreibt sie zurück, manchmal in wortspielhaftem Ton, was sie vor Gericht mit ihrer Persönlichkeit beschreibt: «Ich bin offen und schlagfertig und kommunikativ.»

«Sie sagte mir zum Beispiel nie Nein»

Die Gerichtspräsidentin trägt dem ehemaligen Richter seine Nachrichten vor und wie er auf ihre Nichtantworten reagierte. «Sprachlos?» Oder: «Gugus?»

Die Gerichtspräsidentin liest Vorwurf um Vorwurf der sexuellen Belästigung runter, es sind etliche. Es geht von Sprüchen über Einladungen für Hotelübernachtungen bis hin zu Kussversuchen. Sie grillt ihn in aller Freundlichkeit, fragt mehrmals nach, hakt ein.

Der Beschuldigte bestreitet alle Vorwürfe, er sagt, es sei alles einvernehmlich gewesen. «Für mich war immer klar, dass das beidseits gewollt ist. Sie sagte mir zum Beispiel nie Nein», erzählt er und bezeichnet die Beziehung zwischen sich und der Praktikantin als Flirt und Affäre. «Oder warum soll sie mich fragen, ob sie mit mir im Auto mitfahren dürfe?»

Die Gerichtspräsidentin macht ihn im Prozess auf ein Abhängigkeitsverhältnis aufmerksam. Vorgesetzter und Unterstellte. Richter und Praktikantin. Alt und jung, der Altersunterschied beträgt rund 21 Jahre. Es ist ein Abhängigkeitsverhältnis, das der Beschuldigte nicht als solches wahrnimmt. «Wir waren auf Augenhöhe.»

Aussage gegen Aussage

Am Abend des 13. Dezember betrat die Praktikantin sein Büro, um einen Grundstücksfall zu besprechen. Sie trinken Tee, und er zeigt ihr Fotos von seiner Tochter. Darauf geschieht etwas, das der Richter als einvernehmlich bezeichnet. Die Praktikantin hingegen überhaupt nicht. Es ist der klassische Fall eines Vieraugendelikts. Niemand war dabei, es gibt nur die beiden Aussagen.

Sie sagt, er habe versucht, sie zu küssen. Er bestreitet dies. Er sagt, sie habe ihn am Geschlechtsteil berührt, sie verneint dies. Sie sagt, sie habe mehrmals Nein gesagt und habe aus dem Büro flüchten wollen, er sei ihr im Weg gestanden und habe sie an die Wand gedrückt. Er sagt, das stimme nicht, sie seien nie an der Wand gestanden. Sie sagt, er sei mit dem Geschlechtsteil in sie eingedrungen, er verneint dies, er hätte dies gespürt.

Spurenauswertungen identifizierten Spuren seiner DNA in der Vagina der Praktikantin. Er könne sich das nicht recht erklären, sagt der ehemalige Richter, womöglich stammten sie von seinen Fingern, mit denen er in sie eingedrungen sei.

Einen denkwürdigen Moment erlebt der Prozess, als einer der Richter gegenüber dem Opfer bemerkte, dass sie nicht unkräftig gebaut sei. Wenn sie die Beine zusammenpresse, dürfte es aufgrund seiner Erfahrung schwierig sein, in sie einzudringen. Fragend schaut sie ihn an und sagt, dass es aber geschehen sei.

Briefe vor ihrer Anwaltsprüfung

Das ist die eine Geschichte des Falls. Zwei andere Stränge spielten sich in der Zeit danach ab. Im Herbst 2023 erhielten das Opfer und ihr Freund zwei identische Briefe, beide standen kurz vor der Anwaltsprüfung. «Die Anwaltsprüfung wirst Du nie bestehen. Dafür wurde gesorgt. Selbst X (ein renommierter Jurist, Anm. d. Red.) wird da nicht helfen können.»

Es stellte sich heraus, dass der Brief vom Beschuldigten stammte. Er ging dabei ziemlich naiv vor. Er hatte das Porto per Twint bezahlt, zudem wurden auf dem Brief seine DNA-Spuren gefunden. Ein paar Tage später tauchte der Beschuldigte auch am Ort der Anwaltsprüfung auf. Das Opfer wurde von Panik ergriffen, sie zitterte am ganzen Körper und erlitt einen Nervenzusammenbruch. Mittlerweile hat sie wegen des Vorfalls ihren Wohnort gewechselt. Das Opfer ist zudem seit dem mutmasslichen Übergriff in psychotherapeutischer Behandlung.

Der Richter bestreitet seine Urheberschaft an den Briefen nicht. «Ich war das, ich bin alles andere als stolz darauf.» Er wolle es nicht als Entschuldigung verstehen, doch er habe sehr unter der Vorverurteilung in den Medien gelitten. Es sei zudem sehr wahrscheinlich, dass die Gegenseite den Journalisten Informationen zugespielt habe. Heute sei er beruflich tot, sozial tot. Freunde hätten sich von ihm abgewandt. «Ich wollte selbst Gerechtigkeit schaffen. Ich entschuldige mich in aller Form dafür.»

Die Frage der Befangenheit

Der dritte Strang der Geschichte wurde im Vorfeld vor allem in Justizkreisen debattiert. Verschiedene Experten fanden es falsch, dass eine Bündner Staatsanwältin den Prozess führte. Eine Person auch, die den Beschuldigten kannte und sogar duzte.

Markus Mohler war früher Staatsanwalt und arbeitete als Kommandant der Kantonspolizei Basel-Stadt. Er sagte gegenüber der Plattform «Inside Justiz»: «Um nur schon dem Anschein der Befangenheit zu begegnen, sollten solche Verfahren von ausserkantonalen Staatsanwälten geführt werden.» Die Bündner Staatsanwaltschaft hingegen war anderer Meinung und ermittelte darum selbst.

Vor der Kleinräumigkeit im Kanton hatte auch das Opfer Respekt. Obwohl sie direkt nach dem Übergriff ins Spital ging, um Spuren zu sichern, meldete sie erst im März den Behörden den Vorfall. Ihr Freund sagte ebenfalls vor Gericht aus und erzählte explizit von der Angst vor dem «Filz» im Kanton.

Sie habe den Vorfall erst verdrängt. «Ich schämte mich und hatte Angst vor den Medien.» Sie habe ihre berufliche Zukunft in Graubünden gesehen und wollte sie durch einen Prozess nicht gefährden. «Ich wollte nicht die Frau in Graubünden sein, die vergewaltigt wurde.»

Tatsächlich verfolgte sie der Übergriff kürzlich auch an ihrem Arbeitsort im neuen Wohnkanton. Ein Gerichtspräsident fragte sie, ob sie die involvierten Personen in diesem Vergewaltigungs­prozess in Graubünden kenne.

Am Freitag folgen die Plädoyers.