USA überlassen Nordsyrien dem Spiel der Mächte
Die Kurden waren bislang die Verbündeten der USA und fühlen sich nun von Washington im Stich gelassen.
Montagmorgen im Präsidentenpalast von Ankara. Türkische Journalisten warten, ein Auftritt des Regierungschefs und militärischen Oberbefehlshabers ist angekündigt. Ein grauer Vorhang öffnet sich, wie im Theater, gibt kurz den Blick frei auf goldglänzendes Interieur, Recep Tayyip Erdogan tritt ans Mikrofon, Vorhang zu. Erdogans Stimme klingt rau, wie bei einem, der in den letzten Stunden zu viel geredet hat. Und was er sagt, macht auch nichts wirklich klar: «An einem Abend, plötzlich», also ohne weitere Vorwarnung, könne der neue türkische Einmarsch in Syrien beginnen, sagt Erdogan. Und fügt dann hinzu – als gebe es doch noch viel Zeit: Er werde in der ersten Novemberhälfte in Washington mit US-Präsident Donald Trump die Entwicklungen in der Region besprechen. Vorhang auf, Abtritt Erdogan, Vorhang zu. Der Präsident bricht danach Richtung Serbien auf.
Ein paar Stunden zuvor hatte das Weisse Haus bereits mitgeteilt, dass die USA den «lange geplanten Einsatz» im umkämpften syrischen Gebiet, den die Türkei «bald» beginnen werde, nicht unterstützen werden. Der Rückzug der US-Truppen aus der syrisch-türkischen Grenzregion begann dann sofort. Damit lässt US-Präsident Donald Trump Erdogan freie Hand, gegen die Kurdenmilizen vorzugehen, die bislang Partner Washingtons im Kampf gegen den «Islamischen Staat» (IS) waren. Mit den von US-Truppen und Kurden in den vergangenen zwei Jahren gefangenen IS-Terroristen müssten sich dann auch die Türken befassen, liess das Weisse Haus noch wissen.
Die Rolle der Kurden bei der Bekämpfung des IS wollte Ankara nie anerkennen. Für die türkische Regierung sind die syrisch-kurdischen «Volksverteidigungseinheiten» (YPG) ebenfalls «Terroristen», weil sie mit der türkisch-kurdischen PKK verbündet sind, die in der Türkei seit 40 Jahren einen blutigen Kampf gegen Staat und Armee führt. Die PKK gilt auch in Europa und in den USA als Terrororganisation, für die YPG gilt dies nicht.
Der frühere amerikanische Verteidigungsminister James Mattis und Ex-Sicherheitsberater John Bolton hatten, als sie noch im Amt waren, immer wieder versucht, Trump von einem Truppenrückzug aus Syrien abzuhalten, um die kurdischen Milizen zu schützen, die auch der bestimmende Teil der Syrisch-Demokratischen Kräfte (SDF) sind. Deren Sprecher, Mustafa Bali, bestätigte via Twitter den US-Rückzug. Bali schrieb, die USA liessen damit zu, dass die Gegend zum Kriegsgebiet werde. Die Entscheidung von Trump ruiniere das Vertrauen in die USA, twitterte Bali.
Trump geht es ums Geld
Trump twitterte auch: Eine weitere Unterstützung der von Kurden geführten Rebellengruppen wäre zu teuer. «Die Kurden haben mit uns gekämpft, aber sie haben dafür extrem viel Geld und Ausrüstung bekommen.» Es sei Zeit, so Trump, für einen Ausstieg der USA «aus diesen lächerlichen, endlosen Kriegen, von denen viele Stammeskriege sind». Tatsächlich werden laut der New York Times gerade einmal 150 bis 200 Soldaten innerhalb Syriens verlegt.
Aus Ankara hiess es, der US-Rückzug könne eine Woche dauern. Das klang so, als sei zumindest in den nächsten Tagen nicht mit dem Angriff zu rechnen. Brett McGurk, einst Trumps Sondergesandter für den Kampf gegen den IS, nannte Trumps Entscheidung «impulsiv», sie gefährde Verbündete, und dies alles nur wegen eines «harschen Telefonats». Trump und Erdogan hatten am Sonntag telefoniert. McGurk hatte schon in einem Artikel für Foreign Affairs gewarnt, die Türkei wolle ihr Staatsgebiet um mehr als 30 Kilometer nach Syrien hinein ausdehnen.
Zehn oder 35 Kilometer, wie tief werde die Türkei nach Syrien vorstossen, für ihre «Sicherheitszone»? Darüber diskutierten nach dem Erdogan-Auftritt türkische Experten im TV-Sender Habertürk über Stunden hinweg. Vor der UN-Generalversammlung hatte Erdogan jüngst Karten gezeigt, mit einem 480 Kilometer langen und etwa 30 Kilometer breiten Korridor, der allein von der Türkei beherrscht werden sollte. In dem Telefonat mit Trump sagte er nach Angaben des Präsidialamts in Ankara, zentrales Ziel der Militäroperation sei «die Neutralisierung der Bedrohung durch PKK-YPG-Terroristen».
Zudem wolle man Bedingungen schaffen, die eine Rückkehr von syrischen Flüchtlingen ermöglichen. Trump gegenüber habe Erdogan seine «Frustration» darüber deutlich gemacht, dass ein geplantes gemeinsames Vorgehen mit den USA in Syrien vom US-Militär und der amerikanischen Sicherheitsbürokratie verhindert worden sei. Gemeinsame Patrouillen von amerikanischen und türkischen Soldaten hatte Erdogan zuvor bei einer Parteiversammlung als Augenwischerei bezeichnet.
Pläne zur Umsiedlung von Flüchtlingen in neue Musterstädte in Syrien hatten türkische Gesprächspartner auch Bundesinnenminister Horst Seehofer bei seinem Besuch in der vergangenen Woche in Ankara präsentiert, und zwar «ausführlich», wie Seehofer der SZ sagte. Erdogan erhofft sich einen finanziellen Beitrag der EU für den Bau neuer Städte in Nordsyrien.
Die EU könnte allerdings kaum einer Besatzungsmacht in Syrien mit Finanzhilfen zur Seite springen, was Ankara offenbar übersieht. Das Washington Institut for Near East Policy rechnete jüngst vor: In dem fraglichen Gebiet lebten derzeit etwa 850'000 Menschen, 650'000 davon seien Kurden. Konflikte seien daher bei einer grossen Umsiedlungsaktion von sunnitischen syrischen Flüchtlingen unausweichlich, warnt der türkische Journalist Cengiz Çandar. Der linke türkische Autor Ahmet Aziz Nesin schrieb in einem Tweet, Erdogan führe mit einem Angriff auf Syrien die Türkei «in den Selbstmord». Jemand muss «Halt» sagen, forderte Nesin.
Regierungskritische türkische Medien warnten auch vor den inhaftierten «Zehntausend» IS-Kämpfern und deren Familien im syrischen Kurdengebiet, mit denen sich die Türkei dann befassen müsse. Erdogan nannte diese Zahl bei seinem kurzen Auftritt am Montag «übertrieben».
Der Präsident kann bei einem Einmarsch auf die mit seiner AKP verbündeten Ultranationalisten zählen. Deren Rhetorik ist teils noch schriller als die der AKP. Die grösste Oppositionspartei, die säkulare CHP, vertritt dagegen die Position, Ankara sollte wieder mit dem Diktator in Damaskus, mit Baschar al-Assad, reden, da ohne ihn kein Frieden möglich sei. Diese Position wird nicht von der gesamten Opposition geteilt. Als die türkische Armee im Januar 2018 bereits die kurdische Provinz Afrin einnahm, liess Ankara Hunderte türkische Kritiker der Operation festnehmen.
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