US-Südstaaten entdeckenWo der sagenhafte Groove herkommt
Die Luft ist erfüllt von Jazz, Country und Rock ’n’ Roll: Eine Schlendertour durch die Städte südlich von Nashville.
Pflatsch. Wieder landet ein Silberkarpfen hörbar im Wasser des Atchafalaya Basin im Süden des US-Bundesstaates Louisiana. Es gehört zum Mississippi-Delta und damit zum grössten Flusssumpfsystem Amerikas. Pfeilschnell schiessen die Fische in die Luft und drehen ihre Salti. Sie können bis über zwei Meter aus dem Wasser schnellen.
Der Silberkarpfen wurde aus Asien eingeschleppt, mittlerweile besiedelt er viele Seen und Flüsse Nordamerikas. «Falls einer ins Boot springt, bitte nicht anfassen», ulkt Ryan Watson, der uns in seinem Boot durch das seichte Wasser leitet: «Die Viecher sind schleimig und stinken.» Die kleine Lucy, die auch an Bord ist, ergreift verängstigt die Hand ihrer Mutter. Sicher ist sicher.
Diese Reise ist ein Angebot der Schweizer Familie, mehr Informationen finden Sie hier.
Gemächlich gleiten wir über das Atchafalaya Basin. Das Wasser des Beckens dümpelt gemächlich vom Mississippi dem Golf von Mexiko entgegen.
Unser Boot zieht einen Scheitel in das dunkle Wasser, vor uns ist es spiegelglatt. Wir fahren vorbei an mächtigen Sumpfzypressen, deren Äste sind mit Spanischem Moos bewachsen, das aussieht wie silbrig-graue Zotteln.
Im Reich der Alligatoren
Im Wasser spiegeln sich die vielen Baumstümpfe, die wie Stumpen aus dem Sumpf ragen. Silberreiher und Ibisse nutzen sie als Sitzplätze. Über 150 Vogel- und rund 100 Fischarten leben im Bayou, wie stehende oder langsam fliessende Gewässer in den US-Südstaaten bezeichnet werden. Alligatoren sind auch da. Allenthalben gähnen sie uns auf ihren Sonnenplätzen an und verziehen sich ins Wasser, wenn wir ihnen zu nahe kommen. «In Louisiana leben doppelt so viele Alligatoren wie Menschen», sagt Ryan Watson, und Lucy zuckt neuerlich zusammen.
In der Naturidylle schwinden die Erinnerungen daran, was wir an den Tagen zuvor in den Städten erlebt haben, zusehends. Wir sind in Atlanta gestartet – und umrunden die «Coca-Cola City» gegen den Uhrzeigersinn. Nashville, Memphis, New Orleans, Destin, Savannah, Charleston, Atlanta. Sieben der elf US-Südstaaten kreuzen wir.
Eine lange Reise, aber jede Meile lohnt sich. Denn sie führt durch Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten – vorbei an weiten Baumwoll- und Zuckerrohrfeldern, quer durch wirblige Städte und Naturparadiese wie das Atchafalaya Basin. Manche der Welten sind skurril und deshalb besonders faszinierend. Wunderwelten halt.
Ein Garten aus Felsen
Beispielsweise die Rock City Gardens auf dem Lookout Mountain, zwei Fahrstunden nordwestlich von Atlanta. Eine reiche Familie legte den Garten auf einem Felsbuckel an und machte ihn 1932 für die Öffentlichkeit zugänglich. Kilometerlange verwunschene Irrwege führen durch die Steinlandschaft, vorbei an Wasserfällen und Beeten und über 400 heimischen Pflanzen.
Eine Passage ist dermassen eng, dass selbst schlanke Menschen nur knapp durch den Spalt passen. Eine füllige Besucherin aber bleibt ratlos vor dem Schlitz stehen. «Da passe ich definitiv nicht durch», sagt sie und macht kehrtum. Ihr bleibt der Prachtblick von der Aussichtsplattform verwehrt, die hinter dem Engpass liegt.
Eine unendliche Weite streckt sich vom Lookout Mountain aus dem Horizont entgegen, ihr Ende ist im Dunst des Herbstes erst gar nicht auszumachen.
Einmal Cowboy sein
Auch Nashville ist ein Ort zum Staunen, die Stadt liegt zwei Fahrstunden von den Steingärten entfernt. Als wir sie erreichen, streben die Menschen dem hell erleuchteten Football-Stadion am Ufer des Cumberland River entgegen, die Tennessee Titans feiern ein Heimspiel. Uns aber zieht es ans andere Ufer, hinüber zum legendären Broadway. Ein lauter, glitzernder Kosmos.
An der Vergnügungsmeile sind die unzähligen Country-Clubs zu finden, welche die Menschen aus nah und fern magisch anziehen. Mit Cowboyhut und Boots bewehrt, ziehen sie über die Trottoirs. Die Utensilien lassen sich vor Ort in einem der Shops kaufen, dafür blättern Willige auf die Schnelle gern mehrere hundert Dollar hin.
Besucherinnen und Besucher zieht es in die Country-Schuppen. In manchen werden gleichzeitig vier Bühnen bespielt, und der Sound wird gewaltig aufgedreht, um gegen die Konkurrenz anzukommen. Die Musik schallt durch die Strasse, Jung und Alt tanzt im Schein der farbigen Leuchtreklamen dem Glück der Nacht entgegen.
«Der Broadway ist für mich zu laut, zu schrill»
Dafür hat Andrea Benz nur ein müdes Lächeln übrig. Sie ist vor vier Jahren ebenfalls des Country wegen nach Nashville gekommen. Die Schweizer Gitarristin und Sängerin macht die Country-Kultur aber nicht zur kurzweiligen Party, sie lebt sie übers ganze Jahr. «Der Broadway ist für mich zu laut, zu schrill», sagt die Zürcherin: «Mich zieht es eher zu den Bühnen im ‹Music Valley›, wo die Tradition des Country noch bodenständig ist.»
Im Land der grossen Träume
Andrea Benz spielt in verschiedenen Bands und verdient damit ihren Lebensunterhalt, vergangenes Jahr legte sie sogar ein eigenes Album auf. Ihr Traum? «Ein Auftritt in der ‹Grand Ole Opry›, der langlebigsten Radioshow der US-Rundfunkgeschichte», sagt sie. Allwöchentlich werden die dortigen Konzerte live übertragen, nur die Besten der Besten werden engagiert. Wie realistisch ist dieses Ziel? «In Amerika ist vieles möglich», sagt die Musikerin und lacht. «Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.»
Die Hoffnung auf ein besseres, schöneres Leben ist in den Südstaaten enorm hilfreich. Denn viele Menschen müssen sich kräftig nach der Decke strecken, um über die Runden zu kommen. «Die sonnenverwöhnten Staaten sind zugleich auch die ärmsten Gegenden Amerikas. Statistiken besagen, dass etwa zwanzig Prozent der dortigen Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben», schreibt der US-Reiseschriftsteller Paul Theroux in seinem Buch «Tief im Süden».
Die Bewohner werden regelmässig von Wirtschaftskrisen und Naturkatastrophen gebeutelt. Und trotzdem konnten sie sich eine gehörige Portion Zuversicht bewahren, ihre Freundlichkeit und lebensbejahende Art sind beeindruckend. «Gott hat mit mir andere Pläne», sagt beispielsweise Anne, die afroamerikanische Frau. Sie verteilt vor dem Fremdenverkehrsamt in Natchez, Mississippi, Unterlagen über die Attraktionen des Städtchens – in der Hoffnung, dafür ein paar Batzen zu erhalten.
Anne arbeitete jahrzehntelang im dortigen Tourismusbüro. Nun ist sie arbeitslos, die Zentrale wird in den nächsten zwei Jahren umgebaut. Stolz überreicht sie mir und Fotografin Vera Hartmann einen Prospekt, in dem die vielen Antebellum-Häuser beschrieben sind, die stattlichen Herrenhäuser von Natchez aus der Sklavenzeit. Dass die ursprünglichen Besitzer wahrscheinlich auch Annes Vorfahren ausgebeutet haben, scheint vergessen.
Diese historische Unschärfe ist verblüffend, in den US-Staaten aber weitverbreitet. Viele Menschen betrauern noch immer die Zeiten, in denen einst der Baumwoll- und Zuckerrohrhandel dem Süden der USA Geld und Reichtum bescherten – obwohl viele einen hohen Preis dafür zahlen mussten. Und noch immer suchen viele Städte nach einem Ersatz für den einst florierenden Baumwollhandel.
Der Duft der Historie
So auch Savannah im US-Bundesstaat Georgia, die Stadt am Savannah River, ein ehemaliges Handelszentrum des Baumwollhandels. Die Altstadt umfasst grosszügig begrünte Plätze und viele gut erhaltene historische Häuser. Sie gilt als eine der schönsten des Landes. Die backsteinernen Lagerhallen unten am Fluss beherbergen heute Luxushotels und zahlreiche Shops. Trotzdem füllt der Tourismus die Kassen weit weniger als einst die Agrarerzeugnisse.
Dasselbe gilt für die zwei Fahrstunden nordöstlich gelegene Küstenstadt Charleston, die einstige Hauptstadt von South Carolina. Sie war einst Drehscheibe des Sklavenhandels, verpasste aber in der Zeit der Industrialisierung wirtschaftlich den Anschluss.
Von der Armut des Südens ist die afroamerikanische Bevölkerung besonders betroffen, doch selbst sie ist auf Zeitzeugen aus der Sklavenzeit stolz. So auch auf die Nottoway Plantation in der Nähe von Baton Rouge: ein Prachtbau nach klassischem Antebellum-Zuschnitt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Insgesamt 64 Zimmer mit 165 Türen und 200 Fenstern finden sich unter dem denkmalgeschützten Dach. Die umliegenden Pavillons beherbergen heute Hotelgäste.
Im «weissen Schloss von Louisiana» ist alles vom Feinsten: italienischer Marmor, Porzellan aus der deutschen Meissen-Manufaktur, kostbarstes Mobiliar. Im Hauptgebäude lebte einst eine wohlhabende Familie mit ihren 11 Kindern und 42 Haussklaven. Die Bilder der drei Söhne stehen noch immer auf dem Sekretär des Herrenzimmers.
Unser Guide führt mit Stolz durch das Anwesen und erzählt Schauergeschichten über verstossene Leibeigene, als lese er aus einem Märchenbuch vor. Auch das ist bemerkenswert. Nicht nur die Welten der US-Südstaaten sind unterschiedlich, sondern auch die Rhythmen, die sie erfüllen. Nashville folgt den markigen Melodien des Country, Memphis wiederum schwingt Knie und Hüften zu Rock ’n’ Roll. Schliesslich lebte dort der König dieser Musiksparte, wie aktuell im Kinofilm «Priscilla» zu sehen ist.
Elvis Presley! Das Haus, in dem er ab den 1950ern bis zu seinem Tod regierte, steht oberhalb einer stark befahrenen Strasse, Fans haben ihre Liebesbekundungen auf die lange Mauer gekritzelt, die das Grundstück vor unberechtigtem Zutritt schützt.
Weisse Pracht von New Orleans
Im Haus flüstern die Guides, die über den Publikumsstrom wachen, den Namen des ehemaligen Hausherrn noch immer mit grosser Ehrfurcht. Die Räume sind mit Originalmobiliar bestückt: allesamt protzig und klotzig. Einzig vor den Gräbern, die im Garten von Graceland zu finden sind, macht der Überschwang halt. Sie sind einfach gehalten und verströmen eine gewisse Andacht. Nebst Elvis wurden dort seine Eltern und seine Grossmutter, seine Tochter Lisa Marie und Enkel Benjamin zur ewigen Ruhe gebettet.
Nun sitzen wir in New Orleans, der Stadt des Jazz. Die wüsten Schrunden, die 2005 der Wirbelsturm Katrina in New Orleans hinterlassen hatte, sind längst vernarbt. Der Gewaltssturm hatte 80 Prozent der Stadt überflutet. Tempi passati. Im Café du Monde treffen sich Touristen und Heimische wieder ausgelassen zum Kaffee und essen dazu Beignets, eine Spezialität von New Orleans. Die Hefeteigkrapfen sind mit dermassen viel Puderzucker bestreut, dass der Boden des Gastbetriebes weiss ist wie nach einem Schneesturm.
In Hörweite hat der Strassenmusiker Darryl Jenkins seine Lautsprecher aufgestellt – er spielt Jazz-Klassiker à gogo. Auch durchs nahe French Quarter schallt Musik. Die berühmte Altstadt mit den farbigen Häusern und begrünten Balkonen gilt als «Wiege des Jazz». Vor allem nachts vibriert das Viertel im Sound der Bands und lässt die Gäste in den Hipster-Bars und angesagten Restaurants lässig mitwippen.
Langsam dunkelt es in New Orleans ein. Wir sitzen noch immer im Café du Monde und trinken einen dritten Cappuccino. Auch Darryl Jenkins ist geblieben. Eine alte Dame tippelt am Rollator über den Asphalt, wartet, bis der Musiker seinen Song fertig gespielt hat, und beginnt, mit ihm zu sprechen. Gemeinsam stimmen sie einen Kanon an: «What a Wonderful World», was für eine wunderbare Welt.
Wir schliessen uns der Songzeile vorbehaltlos an.
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