Prozess gegen Schützen von KenoshaUS-Teenager wird zur politischen Symbolfigur
Kyle R. ist nicht einmal volljährig, als er zwei Menschen erschiesst. Glaubt man ihm, wollte er sich nur selbst verteidigen. Der Prozess um den Fall zeigt die Spaltung des Landes.
Im Sommer 2020 greift ein 17-Jähriger zu einem Sturmgewehr. Er fährt gut 30 Kilometer nach Kenosha im US-Bundesstaat Wisconsin. Dort wurde wenige Tage zuvor ein Schwarzer bei einem Polizeieinsatz schwer verletzt, in der Stadt kommt es zu Protesten und Ausschreitungen. Kyle R. will – das ist seine Darstellung – den Ort vor Krawallmachern schützen, die Polizei unterstützen. Am Ende des Abends hat der 17-Jährige zwei Menschen erschossen und einen weiteren verletzt. Niemand bestreitet das, auch nicht Kyle R. Doch er plädiert auf unschuldig – und das Recht auf Selbstverteidigung.
In Kenosha läuft seit vergangenem Montag der Prozess rund um die Ereignisse der verhängnisvollen Sommernacht. Doch es geht um viel mehr als die Schüsse eines pausbäckigen Teenagers, der deutlich jünger aussieht – der Fall ist hochpolitisch, trifft die wunden Punkte des Landes. Es geht um Rassismus, die Frage der Selbstverteidigung und schliesslich sogar um Ex-Präsident Donald Trump. Dem heute 18-Jährigen Kyle R. werden Mord und andere Verbrechen zur Last gelegt. Ihm droht lebenslange Haft. Auch wenn Schütze und Opfer allesamt weiss sind, handelt es sich laut «Washington Post» wohl um den «politischsten Prozess der Black-Lives-Matter-Ära».
Nur wenige Monate zuvor war der Afroamerikaner George Floyd bei einem brutalen Polizeieinsatz in Minneapolis getötet worden. Die USA waren in Aufruhr, in zahlreichen Städten des Landes kam es zu Protesten und Unruhen. Auch die heftigen Proteste in Kenosha fallen in diese Zeit. Was in der Augustnacht dort passierte, ist stellenweise auf Video dokumentiert: Der unbewaffnete 36-jährige Joseph R. verfolgt Kyle R. auf einen Parkplatz. Der Teenager schiesst, Joseph R. stirbt. Strittig ist, inwieweit Joseph R. eine Bedrohung war. Kyle R. verlässt dann den Tatort, wird verfolgt, stürzt und schiesst um sich – der 26 Jahre alte, unbewaffnete Anthony H. wird tödlich getroffen.
Medien berichten von einer aufgeheizten Stimmung – Rassismus-Gegner, Antifa und Rechtsextreme seien auf der Strasse gewesen. «Es war oft schwierig, Freund und Feind zu unterscheiden», schreibt «The New Yorker». Die erstaunliche Tatsache, dass der weisse Kyle R. trotz Waffe in der Hand den Tatort verlassen durfte, unterstreiche die «rassistische Doppelmoral», schrieb das Magazin weiter. Die Polizei argumentiert, die Situation sei chaotisch gewesen – und der Teenager nicht als Täter identifiziert. Er stellt sich Stunden später der Polizei – doch bald ist er auf Kaution frei.
Denn der Jugendliche wird von Rechten zum Helden stilisiert – zum Märtyrer im Kampf gegen einen gewalttätigen linken Mob, zum mutigen Unterstützer der unterfinanzierten Polizei. Schnell kommen genug Spenden für seine Kaution zusammen. Und Kyle R. bekommt Rückendeckung von ganz oben. «Er hat versucht, vor ihnen zu fliehen – (...) Er wäre wahrscheinlich getötet worden», springt der damalige Präsident Trump ihm zur Seite.
Getötete Männer werden als Krawallmacher, statt als Opfer bezeichnet
«Dieser Fall ist sehr politisch geworden», sagt auch Bruce Schroeder, der Vorsitzende Richter. Er erlaubte den Verteidigern, die getöteten Männer als Krawallmacher, statt als Opfer zu bezeichnen. Das sorgte für Empörung in den USA. «Kyle R. schützte sich selbst und seine Schusswaffe, damit sie nicht gegen ihn oder andere Personen verwendet werden konnte», sagt Verteidiger Mark Richards. Sein Verhalten sei «angemessen» gewesen.
«Wir dürfen nicht vergessen, dass sich in dieser Nacht Hunderte von Menschen auf der Strasse befanden, die das gleiche Chaos erlebten», betont hingegen Staatsanwalt Thomas Binger. «Und doch hat von diesen Hunderten von Menschen nur eine Person in dieser Nacht jemanden getötet.»
Doch wer ist dieser junge Mann? Die Antwort auf diese Frage scheint genauso schwierig wie die Frage, wie die Schüsse der Augustnacht zu bewerten sind. Je nach politischer Haltung scheint jeder in Kyle R. sehen zu können, was er möchte. Und so ist er in den USA zum Symbol geworden: für rassistische Selbstjustiz oder den Kampf gegen gewalttätige Mobs.
Fakt ist, dass der damals 17-Jährige zu jung für den legalen Besitz der Waffe war. Doch ist er Mitglied einer rechten Miliz? Trump-Anhänger? Jemand, der sich für öffentliche Ordnung eingesetzt hat? Sich ein bisschen beweisen wollte? Oder jemand, der nur nach Kenosha gefahren ist, um anderen zu schaden? Trump habe er nur gut gefunden, weil dieser die Polizei unterstütze, sagte seine Familie, die inzwischen aus ihrem Heimatort weggezogen ist, der Zeitschrift «The New Yorker». Ein Rassist Kyle R. auf gar keinen Fall – es gebe schliesslich auch schwarze Verwandte in der Familie.
Tödliche Jagd auf einen schwarzen Jogger
Mehr als tausend Meilen von Kenosha entfernt wird derzeit auch noch über einen weiteren Fall verhandelt, der das Land aufgewühlt hat – eine Tat, die ebenfalls auf Video festgehalten wurde. Der 25-jährige Ahmaud Arbery war am 23. Februar vergangenen Jahres beim Joggen in Brunswick erschossen worden.
Der 65-jährige Gregory M., sein 35 Jahre alter Sohn Travis und ihr 52-jähriger Nachbar William B. hielten Arbery nach eigenen Angaben für einen Einbrecher – und nahmen mit zwei Autos die Verfolgung auf. Ein von B. aufgenommenes Video zeigt, wie die mit einem Gewehr und einem Revolver bewaffneten Männer Arbery mit ihrem Pickup den Weg versperren. Es kommt zu einem Handgemenge zwischen Travis M. und Arbery, dann sind mehrere Schüsse zu hören und der Schwarze bricht zusammen. Der 25-Jährige starb noch am Tatort.
Die örtlichen Strafverfolgungsbehörden sahen zunächst keinen Grund, die weissen Männer festzunehmen oder sonstwie zu belangen. Ein inzwischen abgeschafftes Gesetz erlaubte es den Bürgern Georgias, Verdächtige festzunehmen, und die Männer erklärten, Arbery habe sie angegriffen. Vermutlich half es auch, dass Gregory M. in der Vergangenheit als Polizist und als Ermittler für die örtliche Staatsanwaltschaft gearbeitet hatte.
Erst als zweieinhalb Monate später das Video von Arberys Tod publik wurde und der öffentliche Druck wuchs, zogen Ermittler des Bundesstaates Georgia den Fall an sich. Die drei Männer wurden schliesslich festgenommen und des Mordes angeklagt.
Auch hier plädieren die Angeklagten auf nicht schuldig – sie hätten Arbery für einen Einbrecher gehalten. Und auch in diesem Fall ist wieder von Selbstverteidigung die Rede. In der politisch aufgeheizten Stimmung der USA werden die Urteile der Gerichte in beiden Fällen mehr sein als nur juristische Abwägungen. Sie haben das Potenzial, das Land weiter zu spalten.
SDA//aru
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