Gastbeitrag zur InklusionUnser Land schliesst 20 Prozent der Bevölkerung aus
Menschen mit Behinderungen werden in Bildung, Politik und Gesellschaft benachteiligt. In meinem Jahr als höchster Schweizer möchte ich das ändern.
Letzte Woche hat mich der Nationalrat zu seinem Präsidenten gewählt. Meine Rolle als «höchster Schweizer» sehe ich auch darin, dafür zu sorgen, dass alle Bürgerinnen und Bürger in unseren demokratischen Staat integriert werden. Am 3. Dezember war der internationale Tag der Menschen mit Behinderungen. Wir alle sind aufgefordert, uns für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen starkzumachen.
1,8 Millionen Menschen in der Schweiz leben mit einer Behinderung. Das ist eine von fünf Personen. Als langjähriges Mitglied der Graubündner Kantonalkommission von Pro Infirmis sind mir Anliegen und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen vertraut. Es ist leider eine Tatsache, dass sich immer noch ein grosser Teil dieser Mitbürgerinnen und Mitbürger am Rande unserer Gesellschaft bewegen muss, Diskriminierungen ausgesetzt ist und in vielen Lebensbereichen nicht selbstbestimmt am öffentlichen Leben teilnehmen kann.
Die Schweiz hat sich 2018 dazu verpflichtet, das zu ändern. Sie muss das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen umsetzen. Im März 2022 fand die erste Überprüfung durch die UNO statt. Das Resultat ist ernüchternd: Unser Land ist weit davon entfernt, zu den Besten zu gehören. Der Untersuchungsausschuss rügt die Schweiz in allen Bereichen der Konvention: So fehlen in zentralen Bereichen wie der Bildung und dem ersten Arbeitsmarkt der Zugang und die Unterstützung, damit Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt daran teilnehmen könnten.
Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die politischen Rechte: Menschen mit Behinderungen sind sowohl beim aktiven als auch beim passiven Wahlrecht benachteiligt. Sie sind entweder teilweise oder gänzlich vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen. Abstimmungsunterlagen in leichter Sprache oder Blindenschrift gibt es nicht. Wenn sich Menschen mit Behinderungen einer Wahl stellen, kommt zu physischen Barrieren das gesellschaftliche Stigma hinzu.
Wenn Menschen mit Behinderung untervertreten sind, gehen ihre Rechte oftmals vergessen oder werden ignoriert.
Diese Barrieren schlagen sich auch in der politischen Repräsentation nieder. Im nationalen Parlament gibt es derzeit nur einen Nationalrat mit einer Behinderung. Dabei könnte eine angemessenere Vertretung auf allen Ebenen ein Hebel sein, den Weg der Gleichberechtigung zügig voranzugehen. In der föderalen und vielsprachigen Schweiz soll die Demokratie ein Abbild der Realität sein. Wenn jedoch 20 Prozent der Bevölkerung untervertreten sind, gehen ihre Rechte oftmals vergessen oder werden ignoriert.
In meiner Amtszeit möchte ich ein Zeichen setzen. Am 24. März 2023 werde ich zusammen mit Pro Infirmis die erste Behindertensession der Schweiz einberufen. Anders als bei der Jugend- und Frauensession wird dabei nur ein Fünftel der 200 Sitze in Anspruch genommen. Sie entsprechen der gerechten Repräsentation in der Gesellschaft.
Mein Appell richtet sich deshalb an die Politikerinnen und Politiker: Sie sollen sich bewusst sein, wie gross der Anteil der Wählerinnen und Wähler mit Behinderungen ist, den sie unter der Bundeshauskuppel vertreten. Er geht auch an die betroffenen Menschen: Sie sollen feststellen, dass sie ihre Anliegen im Parlamentsgebäude selbst vertreten können. Und er richtet sich an uns alle: Sorgen wir gemeinsam dafür, dass 20 Prozent der Bevölkerung ihren Platz in Gesellschaft und Politik einnehmen können.
Martin Candinas ist Nationalratspräsident der Mitte-Partei und Präsident der Kantonalkommission von Pro Infirmis Graubünden.
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