Politik in ChinaUndurchschaubar und zu jeder Zeit unberechenbar
Peking hat einen neuen Aussenminister, doch vier Wochen nach dem rätselhaften Verschwinden seines Vorgängers bleiben Fragen. Warum sagt die Regierung nicht, wo Qin Gang ist?
Die Sache schien klar zu sein: Der Ständige Ausschuss des Volkskongresses hat den chinesischen Aussenminister Qin Gang am Dienstag aus dem Amt entfernt. Wenige Stunden später waren auf der Seite des Aussenministeriums sämtliche Hinweise auf den einstigen Minister und Botschafter in den USA gelöscht.
Selbst alte Pressemitteilungen fehlten. Nur sieben Monate nach seiner Ernennung im Dezember 2022 schien der einstige Protegé von Parteichef Xi Jinping in Ungnade gefallen zu sein.
Aber nicht so schnell, merkten einige China-Experten kurz darauf an. Wird Qin Gang nicht weiterhin als Mitglied des Staatsrats geführt? Und als Parteimitglied! Und was war die Formulierung noch mal: Entfernt oder entlassen? Schon ruderten die ersten zurück, vielleicht handele es sich doch um einen schweren Krankheitsfall.
Peking stützt seine Macht auch auf Angst
Sicher ist vor allem eines: Wenn die Amtsenthebung am Dienstagabend der Versuch der chinesischen Regierung war, andere Länder zu beruhigen, dürfte dieser gescheitert sein. Weiterhin ist unklar, wo sich Qin Gang aufhält.
Gerade bemüht sich das Land, nach drei Jahren Corona-Isolation die angeschlagenen Beziehungen mit vielen Teilen der Welt zu reparieren. Zu Hause wirbt die Führung um das Vertrauen ausländischer Unternehmen. Der Fall Qin Gang erinnert diese erneut daran, dass sie es in Peking mit einem Akteur zu tun haben, dessen Handeln grösstenteils undurchschaubar, zuweilen chaotisch und zu jeder Zeit unberechenbar bleibt.
Der Vorgänger übernimmt
Anstelle von Qin Gang übernimmt zwar nun erneut sein Vorgänger Wang Yi, der die Volksrepublik als aussenpolitischer KP-Vertreter bereits nach aussen repräsentiert. Eine Sache sollte Qin Gangs Verschwinden aber deutlich gemacht haben: Auch Wang Yi ist nur Aussenminister auf Zeit – eben bis zu diesem Moment, wo sich die Machtinteressen der Führungsspitze erneut verschieben. Auf einen Abschiedsgruss sollte die Welt dann lieber nicht warten.
Angst ist eine der Herrschaftssäulen, auf die Peking seine Macht stützt. Parteichef Xi Jinping hat dieses System aus Überwachung und Paranoia sogar noch verstärkt. Niemand ist sicher, egal, wie weit oben die Person im Parteisystem steht: Das ist die zentrale Botschaft, die sich nach mehr als 70 Jahren KP-Herrschaft so tief in die Köpfe der Menschen eingebrannt hat, dass die Führungsriege im letzten Jahr ein Covid-Regime durchprügeln konnte, dessen Regeln sich mit Logik nicht mehr erklären liessen.
Geheimes Disziplinarverfahren gegen Qin?
Dass der verschwundene Qin erkrankt ist, ist zwar zu diesem Zeitpunkt nicht komplett auszuschliessen. Das wäre aber fast noch schlimmer, immerhin würde das bedeuten, dass Peking selbst in normalen Zeiten nicht in der Lage ist, einen geordneten Amtswechsel vorzunehmen.
Wahrscheinlicher ist hingegen, dass im Hintergrund bereits ein geheimes Disziplinarverfahren gegen den Topdiplomaten läuft, von dem nur sehr wenige wissen. Dies könnte auch erklären, warum seit Bekanntwerden seiner Entlassung scheinbar Chaos herrscht: Seit Wochen war das chinesische Aussenministerium ohne Führung, seine Sprecher wirkten bei den Pressekonferenzen zuletzt eher hilflos als verschwiegen.
Das politische System lebt davon, dass niemand die Spielregeln genau kennt. Auch seine Akteure nicht.
Am Mittwoch kippte die Pressekonferenz im Aussenministerium fast ins Lächerliche, als die Sprecherin immer wieder nur ausweichend auf die einfache Frage «Wo ist Qin Gang?» reagieren konnte: Sie muss sich wie bei einer Schulprüfung gefühlt haben, spotteten einige Chinesen im Netz.
Dennoch ist die Änderung einer Internetseite eine Entscheidung, für die zwangsläufig jemand Verantwortung übernehmen muss. Wer trifft diese? Das politische System lebt davon, dass niemand die Spielregeln genau kennt. Auch seine Akteure nicht.
Klarer ist hingegen, was Qin Gang bei einem Disziplinarverfahren drohen könnte. Bei solchen parteiinternen Säuberungen verschwinden Kader zum Teil für Monate oder Jahre, um dann wegen Korruptionsverdachts oder anderer Vorwürfe vor Gericht gestellt zu werden. So lange werden die Verdächtigen an geheimen Orten verhört und ohne Zugang zu Anwälten oder Familie zu Geständnissen gezwungen.
Fehler gefunden?Jetzt melden.