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In der Nacht kommt die Armee und holt die Särge

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Die Italiener sagen von ihrem Land, es sei das «Epizentrum der Pandemie». Das ist ein schiefes Bild, es mischt Katastrophen unterschiedlicher Genres miteinander. Dennoch passt die Metapher, wenigstens momentan. Am Donnerstag, um 18 Uhr, hat der nationale Zivilschutz in seiner täglichen Medienkonferenz, einem nunmehr fixen Termin des neuen italienischen Alltags, bekannt gegeben, dass das Corona­virus in Italien bisher mehr Opfer gefordert hat als in jedem anderen betroffenen Land der Welt, nämlich 3405 – das sind auch mehr als in China, wo es ursprünglich herkam.

In den vergangenen zwei ­Tagen kamen zunächst 475 und dann 427 Opfer dazu. Nie davor in dieser Krise, auch in der akuten Phase in Wuhan nicht, hatte es an zwei Tagen in Folge so viele Tote gegeben, die an oder mit Covid-19 gestorben sind. Die Unterscheidung zwischen «an» und «mit» ist ein wichtiger Aspekt, von dem gleich noch die Rede sein muss. In diesen zwei Tagen sind auch insgesamt 1499 Patienten genesen, und das lässt die Italiener ein bisschen hoffen.

Die Italiener fragen sich, warum es gerade sie so stark trifft. Dazu gibt es Thesen, aber keine Gewissheiten.

Die Zahl der Neuerkrankungen stieg nach einer leichten ­Verbesserung wieder stark an: um 4480 in 24 Stunden. Auch das ist ein bisheriger Höchstwert. Die Experten sagen, er liege im Trend, beruhigend wirkt die Beteuerung aber nicht.

Doch auf die Stimmung im Volk, das seit zehn Tagen in verordneter Kollektivisolation auf bessere Nachrichten wartet, drücken zunächst natürlich die tragischen Todeszahlen. In Bergamo haben Transporter der Armee Leichen weggebracht, weil es in den Friedhöfen der Stadt keinen Platz mehr für sie gab – mitten in der Nacht. Das italienische Fernsehen zeigte Bilder eines langen Konvois von Militärlastwagen.

«An» oder «mit» Corona?

Das Istituto Superiore di Sanità, Italiens oberstes Gesundheitsinstitut, hat nun eine Studie vorgelegt, in der es alle klinischen Daten der Opfer analysiert hat. Folgende Erkenntnisse und Mittelwerte kamen heraus: Das durchschnittliche Alter der Verstorbenen liegt bei 79,5 Jahren. Die deutlich am stärksten betroffene Altersgruppe sind die 80- bis 89-Jährigen.

Nur fünf Menschen waren unter 40 Jahre, alle waren krank, ehe sie sich mit dem Virus infizierten. 70 Prozent der Opfer sind Männer. Drei Personen (0,8 Prozent) starben offenbar ausschliesslich «am» Coronavirus – «ohne Wenn und Aber», wie die Italiener sagen. Alle anderen litten an mindestens einer schweren Vorerkrankung. Die Hälfte hatte drei oder mehr Krankheiten, die häufigsten waren: Bluthochdruck, Diabetes, Krebs, Herz- und Atembeschwerden.

Das Gesundheitsinstitut führt auch auf, mit welchen Leiden die Menschen eingeliefert wurden. 77 Prozent hatten hohes Fieber, 74 Prozent litten an Dyspnoe, also Atemnot, und 42 Prozent klagten vor allem über Husten.

Krematorien überfordert: Militärlastwagen transportieren in Bergamo Särge mit Corona-Toten ab. Foto: EPA

Auch über die durchschnittliche Verlaufszeit der Krankheit in den tödlichen Fällen lässt sich mittlerweile etwas sagen: Vom Augenblick der ersten Symptome und des positiven Tests bis zur Verlegung ins Krankenhaus vergehen normalerweise rund vier Tage, bis zum Tod auf der Intensivstation noch einmal vier.

Viele Diskussionen ranken sich auch um die angeblich hohe Sterblichkeitsrate in Italien: Die Zahl der bekannten Virusträger lag bisher bei etwa 41'000, die Zahl der Todesfälle bei 3405. Das entspricht einer Rate von dramatischen 8,3 Prozent.

Doch ist diese Rate realistisch? Experten denken, dass es in Italien sehr viel mehr Infizierte gibt, als es offizielle Statistiken ausweisen – viele von ihnen haben keine Symptome oder nur leichte wie bei einer Grippe. Von der Dunkelziffer der «Geisterträger» von Corona, wie man sie nennt, hängt die Sterblichkeitsquote sehr wesentlich ab. Glaubt man den Fachleuten, liegt die wahre Rate nicht bei 8, sondern bei 1 bis 3 Prozent. 3 Prozent wären vergleichsweise hoch, doch Covid-19 gilt nun mal als besonders aggressiver Erreger.

Zwei Wochen voraus

Ungewiss ist auch, ob die Entwicklung in Italien so eigentümlich ist, wie man nun zu glauben scheint. Das Land ist den Nachbarn ungefähr zwei Wochen ­voraus, in allem, wohl auch beim Verlauf der Epidemie. Ähnlich verläuft die Dynamik nun aber in Spanien, wo die Fallzahl zuletzt stark stieg, sowie in Frankreich, den USA, Deutschland und der Schweiz. Ein Vergleich ist wohl erst in einigen Wochen möglich, wenn alle diese Länder das Stadium Italiens erreicht haben – oder auch nicht.

Trotzdem fragen sich die Italiener natürlich, warum es gerade sie zuerst und so stark traf. Auch dazu gibt es viele Thesen und Erzählungen, die vielleicht nur so lange Bestand haben, bis Vergleichswerte aus anderen Ländern vorliegen.

Grund eins ist demografisch: Italiens Bevölkerung gehört zu den betagtesten der Welt, das Durchschnittsalter liegt bei 46,3 Jahren. 22 Prozent der Italiener sind über 65 Jahre alt.

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Grund zwei: Das «Epizentrum» der Ausbreitung umfasst jene drei Regionen im Norden, alle in der Poebene, die das wirtschaftliche und industrielle Herz des Landes bilden, die Lombardei, Venetien und die Emilia-Romagna. Nirgendwo in Europa ist die Luftverschmutzung grösser. Viele ältere Bewohner leiden an Atemwegsbeschwerden. Und die Bevölkerungsdichte ist hoch: Ungefähr 40 Prozent der Italiener leben dort. Ein gefährlicher Mix. Zoomt man die besonders betroffenen Gebiete näher heran, rücken die Städte Lodi, Brescia und Bergamo ins Zentrum, Letztere kämpfen mit schwindenden Kräften gegen die Katastrophe. Nur Mailand und Provinz blieben bisher relativ verschont, und weil in der Metropolregion 3 Millionen Menschen eng an eng leben, ist es von zentraler Bedeutung, dass das so bleibt.

Motiv drei: Italien ist durchaus zu Recht stolz auf sein öffentliches, allen zugängliches Gesundheitswesen. Nur wurde es in der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise radikal zusammengespart. Der hochverschuldete Staat hat Forschungszuschüsse im vergangenen Jahrzehnt um 21 Prozent gekürzt und viele brillante Wissenschaftler ans Ausland verloren. Die Corona-Krise traf das System im ungünstigsten Moment.

Motiv vier: Italien war das erste Land, das Flüge aus und nach China verbot. Die Massnahme war nicht durchdacht: So reisten Passagiere aus China über Paris, Frankfurt und Zürich nach Italien ein, ungetestet.

94 Prozent Zuspruch

Dennoch wächst die Popularität der Regierung rasant. Premier Giuseppe Conte, der sich vor der Epidemie nur mühsam im Amt hielt, steht nun nach einer Umfrage der Zeitung «La ­Repubblica» bei 71 Prozent Gunst im Volk, das gab es seit vielen Jahren nicht. Die befragten Italiener finden die drastischen Einschränkungen des öffentlichen Lebens richtig: 94 Prozent begrüssen sie. 80 Prozent meinen, Italien gehe besser mit der Krise um als alle anderen Länder Europas. Besorgt sind indes fast alle: 65 Prozent «sehr», 30 Prozent «ziemlich».

Das erklärt wohl, warum die allermeisten Italiener streng und diszipliniert die Vorgaben von oben einhalten. Wer es nicht tut, dem drohen nun härtere Strafen. Rom erwägt, die Armee weiter zu mobilisieren, um die Vorschriften durchzusetzen. 7000 Soldaten sind schon in den Strassen. Viel hängt davon ab, wie lange die Italiener den Hausarrest erdulden. Der 3. April, der einmal als Tag der Befreiung galt, ist schon lange Makulatur.

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