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Wenn Künstler ausrasten
Und dann flüsterte er ihm ins Ohr: «Arschloch!»

Marco Goecke, Ballettdirektor der Staatsoper Hannover, ist nach einer Hundekot-Attacke auf eine Journalistin suspendiert worden. Er erhielt auch ein Hausverbot.
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Jetzt, nachdem der Hannoveraner Ballettdirektor eine missliebige Tanzkritikerin mit Hundekot attackiert hat (und inzwischen suspendiert ist), diskutiert man wieder darüber: Einerseits, so wird geklagt, seien die Kritiken schlechter, stümperhafter geworden im Vergleich zu jenen der rezensierenden Grossgenies vor Jahrzehnten. Andererseits, so kontern Redaktorinnen und Rezensenten, würden die Künstlerinnen und Künstler, die doch unbedingt immer vorkommen wollten in den Medien, ehrliche Kritik nicht mehr verkraften und sich, ziemlich unprofessionell, einen medialen «safe space» wünschen. 

Der Theaterkritiker Michael Wolf beschrieb die zahlreichen aktuellen Angriffe auf die Kritikergilde 2022 in einem klugen Essay als Symptom einer Zeit, in der Kunst keine Kunst mehr sein kann und will, sondern Produkt und Statement, designter Aktivismus, Wiege einer Fangemeinde. Und Wolf versuchte, einen einenden Bogen zu schlagen: Die beschimpfte Kunstkritik bewahre das Kunstwerk vielleicht vor seinem drohenden Ende, gerade weil sie es noch als autonom ernst nehme. Doch Zoff gabs schon immer, die Hassliebe zwischen Kunstschaffenden und ihren Kritikern herrscht seit je.

Bereits Goethe veröffentlichte 1774, zuerst anonym, ein Gedicht, das in die bekannten bösen Zeilen mündet: «Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent.» Das Gedicht soll eine Reaktion auf eine negative Kritik von Goethes Schauspiel «Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand» gewesen sein. 

Aber dieser Rachevers ging schon damals nicht unkommentiert durch. So dichtete der zeitgenössische Dramatikerkollege Heinrich Leopold Wagner dagegen an: «Schmeisst ihn tot, den Hund! Es ist ein Autor, der nicht kritisiert will sein.» Vom imaginierten Totschlag liess sich auch Romancier Martin Walser nicht abhalten, als er 2002 gleich einen ganzen, kontroversen, satirischen Schlüsselroman über den Literaturbetrieb und dessen Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki verfasste: «Tod eines Kritikers». 

Martin Walser wehrte sich gegen den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki und den Literaturbetrieb gleich mit einem ganzen satirischen Roman.

Die Gefühle kochen hoch, wenn das Werk, in das man so viel Zeit und Energie gesteckt hat, nicht goutiert, vermeintlich missverstanden und verunglimpft wird. Als 2002 die damaligen Leitenden des Zürcher Neumarkttheaters, Crescentia Dünsser und Otto Kukla, das hochambitionierte Cross-over-Projekt «Stabat Mater / Unscheinbare Veränderung» auf die Bühne stemmten – und sich dabei verhoben, wie ein Kritikerkollege und ich unabhängig voneinander schrieben –, waren sie nicht froh über die Kritiken von uns beiden und verbaten sich in einem Brief vorderhand weitere Rezensionen ihrer Arbeiten aus unserer Feder.

Buchstäblich Härteres hat Christine Dössel erlebt, die Theaterkritikerin der SZ. Sie berichtet, dass sie in den Nullerjahren im Münchner Residenztheater von einem herunterfallenden Weissbierglas am Arm verletzt worden war: Später erfuhr sie, dass ein erboster Schauspieler das Glas geworfen hatte. Dagegen war ihr Rauswurf aus einer Premierenfeier geradezu eine Harmlosigkeit.

Selbst die sogenannte Spiralblockaffäre rund um Grosskritiker Gerhard Stadelmaier wirkt rund zwanzig Jahre später ein wenig aufgeblasen: Die FAZ-Koryphäe verfolgte 2006 mit offensichtlicher Ablehnung eine Aufführung in Frankfurt; ein Schauspieler entriss Stadelmaier daraufhin den Block und stöberte in den Notizen. Der Kritiker verliess die Vorstellung, unter beleidigenden Worten des Schauspielers, und stiess danach auf der Frontseite der FAZ eine wochenlang dauernde Debatte über die Aufgaben der Theaterkritik, Pressefreiheit und die Grenzen von interaktivem Theater an. Die Bühne und der Schauspieler trennten sich im gegenseitigen Einvernehmen, so die Sprachregelung.

Käthe Dorsch auf einer Briefmarke der Deutschen Bundespost von 1990.

Der Wiener Theaterkritiker Hans Weigel wiederum kassierte 1956 vor seinem Stammcafé vor allen Leuten eine Ohrfeige, gepfeffert mit dem Spruch: «Ich finde es an der Zeit, dass Sie etwas auf Ihr ungewaschenes Maul bekommen.» Die bekannte deutsch-österreichische Schauspielerin Käthe Dorsch hatte in Weigels Rezension voller Ärger gelesen, dass «alles, was gestaltet, erlebt sein sollte», bei ihr «Ansatz, Andeutung» bleibe, fast wie bei «der dreihundertsten Vorstellung» eines Stücks.

Es kam zum Gerichtsprozess, das Burgtheater-Ensemble formierte anfangs eine Phalanx gegen den «herabwürdigenden» Kritiker, die Chose wuchs sich zu einer politischen Schlacht und zu einem Spektakel im Gerichtssaal aus. Am Ende wurde Dorsch – die bereits zehn Jahre zuvor einen Berliner Theaterkritiker geohrfeigt hatte – zur Zahlung von 500 Schilling Strafe verurteilt.

Heute unterstützt die Käthe-Dorsch-Stiftung bedürftige Angehörige künstlerischer Berufe; und seit 1991 gibt es das (von der öffentlichen Hand eingerichtete) Hans-Weigel-Literaturstipendium: Vielleicht ist dies als ein versöhnliches Zeichen zu verstehen – am Ende geht es den Kunstschaffenden wie den Kritikerinnen und Kritikern vor allem anderen um die Liebe zum Theater, zum Tanz, zur Literatur. Die Zürcher Romancière Sibylle Berg ruft sogar noch angesichts der krassen Hundekot-Attacke in einem Tweet zur Geste des Friedens auf.

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Und Marcel Reich-Ranicki erzählte in seinem Buch «Mein Leben» (1999), wie nachhaltig gekränkt Schriftsteller Heinrich Böll durch Reich-Ranickis Verriss des Romans «Fürsorgliche Belagerung» gewesen sei. Und als sie einmal unverhofft aufeinandertrafen, sei Böll auf ihn zugekommen und habe ihm «Arschloch!» ins Ohr geflüstert. Um ihn dann zu umarmen; jetzt sei alles wieder gut, habe er gesagt. Schön, dass auch dies im Kulturbetrieb möglich ist.