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Nachhaltig essen
Umstrittener Bürgerrat erhält Bundesgelder

Wie sieht die Ernährung in Zukunft aus? Gemüseregal eines Schweizer Detailhändlers.  
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Alle Menschen in der Schweiz sollen bis 2030 gesunde, nachhaltige, tierfreundliche und fair produzierte Lebensmittel erhalten. Wie sieht eine Ernährungspolitik aus, die dieses Ziel erreicht? Mit dieser Frage befasst sich ab Mitte Juni ein sogenannter Bürger- und Bürgerinnenrat für Ernährungspolitik. Ob Bankerin, Maurer, Bäuerin oder Pensionierter: 100 Bürgerinnen und Bürger, die in der Schweiz wohnhaft sind, werden zufällig ausgelost. Damit die Gruppe das Land trotzdem möglichst gut repräsentiert, gibt es ein Verfahren, das Merkmale wie Geschlecht, Alter oder Verteilung der Stadt-Land-Bevölkerung berücksichtigt. 

Das Experiment ist Teil des Projekts Ernährungszukunft Schweiz, das verschiedene Organisationen mittragen: die Stiftung Biovision, das Netzwerk «Lösungen für eine nachhaltige Entwicklung» der Vereinten Nationen  sowie Landwirtschaft mit Zukunft, ein Verein, den Aktivisten des Klimastreiks mitinitiiert haben. Elf Treffen sind bis November geplant. Die Teilnehmer sollen bis dann «Empfehlungen» für die Politik und Verwaltung erarbeiten.

«Wir brauchen keine demokratisch nicht abgestützten Schatten­strukturen.»

Martin Rufer, Direktor Schweizer Bauernverband 

Das Vorhaben, von seinen Promotoren als Schweizer Premiere angepriesen, erinnert stark an die Idee der Grünen für einen Klimarat, bei dem ebenfalls per Los bestimmte Bürger Impulse in die nationale Umweltpolitik bringen sollen. Die zweite Parallele: Auch der Bürgerrat für Ernährungspolitik ist umstritten. Die Schweiz habe demokratisch aufgebaute Strukturen, dazu gehöre auch ein vom Volk gewähltes Parlament, sagt Martin Rufer, Direktor des Schweizer Bauernverbands (SBV). «Wir brauchen daher keine solchen demokratisch nicht abgestützten Schattenstrukturen.»

Dass aus Bauernkreisen Widerstand kommt, überrascht kaum: Es wären die Landwirte, die eine etwaige neue Agrarpolitik umsetzen müssten. Die Kontroverse, die nun um den Bürgerrat entbrennt, hat aber eine weitere Ursache: Der Bund unterstützt das Vorhaben mit 0,4 Millionen Franken bis Ende Jahr, wie das federführende Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) auf Anfrage bekannt gibt. Rufer hält es für «problematisch, wenn der Staat solche Schattenstrukturen finanziert». Zumal, wie er sagt, er schon fast sicher ist, welche Empfehlungen der Bürgerrat abgeben wird: mehr Bio, weniger tierische Produktion.

Bundesamt kontert Kritik 

Das BLW verteidigt seine Politik und verweist auf den Bundesrat. Für die Regierung sind nachhaltige Ernährungssysteme einer der Schlüssel, um die Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung umzusetzen. Der Bund habe deshalb ein Interesse daran, zu erfahren, was eine repräsentative Gruppe der Bevölkerung darüber denke beziehungsweise was sie der Politik empfehle, sagt BLW-Sprecherin Florie Marion. Das Projekt eröffne zudem die Chance, «Deblockierungen in politischen Debatten zu unterstützen». Das BLW begründet sein Engagement schliesslich mit internationalen Entwicklungen: Die UNO hat ihre Mitgliedsstaaten ermutigt, Dialoge mit Akteuren zu organisieren, die sich mit Ernährungssystemen befassen. Eine ähnliche Empfehlung hat die OECD gemacht. 

Das BLW versichert zudem, dass die Dialoge die regulären Entscheidungsprozesse nicht ersetzen würden. Vielmehr seien es ergänzende Mittel, um neue Ansätze zu identifizieren und Lösungen für komplexe Herausforderungen zu finden, so Sprecherin Marion. Ähnlich äussert sich Nenad Stojanović, Politologe an der Universität Genf: «Bürgerräte können demokratisch gewählte Instanzen ergänzen und bereichern.» In diesem Punkt gehen die Meinungen jedoch auseinander. Das hat sich schon bei der Klima-Rat-Idee der Grünen gezeigt. Nicht nur Bürgerliche, sondern auch Politiker aus SP und GLP befanden, es gebe in der Schweiz mit ihrer direkten Demokratie genügend Möglichkeiten zur Mitbestimmung. 

«Ich erwarte, dass Politik und Verwaltung die Empfehlungen des Bürgerrats umsetzen.»

Dominik Waser, Verein Landwirtschaft mit Zukunft

Welches politische Gewicht der Bürgerrat erhalten wird, ist offen. Die Promotoren wünschen sich nicht nur «Empfehlungen» für Politik und Verwaltung, wie sie in ihrer Medienmitteilung schreiben. Da der Bürgerrat repräsentativ zusammengesetzt werden soll, schenken sie ihm «viel Legitimität», wie Dominik Waser vom Verein Landwirtschaft mit Zukunft sagt. Waser, der als Klimaaktivist und gescheiterter Zürcher Stadtratskandidat der Grünen bekannt geworden ist, macht keinen Hehl daraus, was das für ihn bedeutet: «Ich erwarte, dass Bundesrat und Parlament sowie die Verwaltung die Empfehlungen dann auch konsequent umsetzen.»

Eine umstrittene Aussage. «Das ginge viel zu weit», sagt Leo Müller (Mitte), Präsident der nationalrätlichen Kommission für Wirtschaft und Abgaben. Es gebe genügend politische Instrumente, um Forderungen in die Politik zu tragen. Müller findet solche Debatten, wie sie der Bürgerrat nun anstossen wird, zwar sinnvoll. «Entscheidend ist jedoch, was im Einkaufsladen passiert.» Die Bauern würden produzieren, was verlangt werde. Wolle sich die Bevölkerung anders ernähren, stellten die Bauern ihre Produktion um, zeigt sich Müller überzeugt. Schon seit Jahren hätten die Konsumenten die Gelegenheit, ihre Worte vor dem Einkaufsregal in Taten umzusetzen. «Doch sie haben sie bis jetzt weitgehend ungenutzt verstreichen lassen.»