Nepalesen im Krieg für RusslandEr hätte sterben können – für ein fremdes Land
Es sei nur ein winziges Land, das die Russen erobern wollten, sagten ihm die Agenten. Also zog der Nepalese Ganesh Thapa in den Krieg in der Ukraine. So wie sein Nachbar, der – anders als er – nie zurückkam.

Ein Teil von Ganesh Thapa scheint noch in der Ukraine zu sein. Wenn man den jungen Mann mit dem fast kindlichen Gesicht fragt, was er dort erlebt habe, wird sein Blick leer. Von Panzern redet er, von schwerer Artillerie, von Drohnen, von Feuer aus allen Richtungen. «Wir kannten uns auf dem Terrain nicht aus und wussten nicht, wo vorne und hinten ist. Vor allem nachts», sagt Thapa.
Er sitzt auf einem Hocker vor dem Farmhaus seiner Familie in einem kleinen Dorf im Syangja-Distrikt, Nepal. Es ist eher eine Ansammlung von Höfen in den Hügeln nahe der Stadt Pokhara, ungefähr 4500 Menschen leben hier. Sein Vater setzt sich auf die Veranda und hört zu. Er beginnt, die Schuhe seiner Enkel zu putzen, für den nächsten Schultag. Auch die Mutter sitzt da, in Hörweite. Die Eltern ergänzen, wenn der Sohn Mühe hat, darüber zu reden. Er ist erst seit zwei Wochen wieder zu Hause, Ganesh Thapa, 29 Jahre alt, Ex-Söldner.
Es kommt ihm hier fast so unwirklich vor wie in den sechs Monaten davor, im Krieg in der Ukraine. Er war in Rostow, Russland, stationiert und bei Donezk in der Ostukraine im Einsatz. Genauer weiss er es nicht, er konnte ja nichts lesen, keine Schilder, nichts. Die Vorgesetzten und die russischen Kameraden verstand er nicht. Er war 4500 Kilometer Luftlinie von seiner Heimat entfernt.
Ganesh Thapa hatte eine Anzeige auf Facebook gesehen, in der Bauern für den Einsatz in Luxemburg gesucht wurden. Bauern für Luxemburg? «Ja», sagt Thapa, «ganz sicher.» Europa, das sei immer ein Traum von ihm gewesen, die Sicherheit, ein gutes Einkommen. Er hätte viel Geld nach Hause schicken können. Jeder Euro ist in seinem Dorf so viel mehr wert.
Die Familie Thapa hat ein paar Ziegen und Kühe, ein bisschen Weideland. Genug, um Essen auf den Tisch zu bringen, aber für mehr nicht. Ganesh lebt mit seiner Frau, den zwei Kindern, seinen Eltern, seiner Schwester und deren Tochter zusammen. Es gibt so gut wie keine Arbeit in der Region. «Ich bin der einzige Sohn, ich muss die Familie ernähren», erzählt Thapa.
Ein Gewehr, ein Erste-Hilfe-Kurs und dann ab an die Front
Deswegen ging er nach der Schule zum Militär. Deswegen sagte er auch Ja, als er am 13. September 2023 bei dem Arbeitsvermittler in Kathmandu auftauchte und es die angeblichen Jobs für Bauern in Luxemburg nicht gab – Soldaten aber, die würden in Russland dringend gesucht. Der Arbeitsvermittler sagte, man könne dort 400’000 nepalesische Rupien pro Monat verdienen, also umgerechnet 2680 Franken. Ein Vermögen. Das Einkommen beträgt in Nepal im Durchschnitt etwas mehr als 970 Franken: pro Kopf, pro Jahr. Nepal ist eines der ärmsten Länder der Welt.
Nach einem Jahr Dienst für Russland könne er die russische Staatsbürgerschaft bekommen, wurde ihm versprochen. Das wäre zwar keine Arbeitserlaubnis in den USA oder in Europa. Aber immerhin: Die russische Wirtschaft laufe gut, sagte man ihm, auch wegen des Krieges, es gibt Arbeit, der Rubel ist stabil.
«Ausserdem sagte der Agent, es sei nicht schlimm an der Front und die Ukraine sei nur ein winzig kleines Land, das bald vom grossen Russland gefressen werde.» Einen Tag später flog Ganesh Thapa über Dubai nach Moskau. Dort empfing ihn ein nepalesischer Student am Flughafen, kaufte ihm eine SIM-Karte und richtete ihm eine App auf dem Smartphone ein, mit der neuen russischen Bankverbindung darauf. Thapa wurde ins «Moscow First Army Camp» gefahren, in den Militärdistrikt nahe der russischen Hauptstadt.
Von Moskau wurde Thapa nach Rostow verlegt. Die Verständigung war kompliziert, die Russen sprachen so gut wie kein Englisch. Er selbst spricht es auch nicht gut. Sie haben es dann mit Google Translate irgendwie hinbekommen. Seine siebenköpfige Gruppe, die meisten kamen wie er aus Nepal, lernte Erste Hilfe, dann ging es weiter an die Front bei Donezk.
Dort wurde ihm sein Pass abgenommen, er bekam eine Schutzweste und ein AK-15-Gewehr ausgehändigt, laut Hersteller Kalaschnikow ein modernes und präzises Schnellfeuergewehr. Thapas Mitstreiter aus Nepal bekamen nur eine AK-74, ein gröberes Sturmgewehr, der Nachfolger der bekannten AK-47, die mit ohrenbetäubendem Rattern schiesst.
Kein Einsatzziel ausser vorrücken und möglichst viele Gegner erschiessen
«Die anderen hatten keinerlei Ausbildung, die suchten einfach Arbeit und wurden in den Einsatz geschickt», berichtet Thapa weiter. Er erklärt den Unterschied zwischen den zwei Waffen, die die Russen den Nepalesen gaben. Er musste anlegen, zielen, treffen. Die anderen konnten nur etwa in die Richtung ballern, in der sie den Feind vermuteten. «Bambambambambam.»
Smartphones durften sie nicht benutzen, solange sie an der Front unterwegs waren, damit die ukrainischen Drohnen sie nicht orten konnten. Nur wenn sie zurück in die Unterkünfte kamen, in den Bunker oder die Zelte im Wald, durften sie nach vorherigem Antrag telefonieren, für begrenzte Zeit.
Ganesh Thapa schickte der Familie ein Video per Tiktok, das ihn beim Marschieren auf einem matschigen Feldweg zeigt. Darunter schrieb er: «I miss you.» Immerhin wussten seine Frau und seine Eltern, dass er am Leben war.
Er und seine Kameraden waren täglich auf Patrouille, nur wenige Männer pro Einheit, manchmal fünf, manchmal mehr, ausgestattet mit Walkie-Talkies. Einen richtigen Einsatzbefehl bekamen sie nie, es gab keine Brücke zu sprengen oder ein Dorf zu sichern. Man sollte nur immer weiter vorrücken, auf das Gebiet der Ukrainer – und dabei möglichst viele Gegner erschiessen.
Ob er jemanden erschossen hat? Ganesh Thapa kann es nicht sagen. Er hat auf Gegner geschossen, weiss aber nicht, ob und wie schwer sie getroffen waren. Er erinnert sich an das Herumirren, an die ukrainische Artillerie, die aus der Ferne auf sie schoss, an die Drohnen, vor denen sie sich im Wald in Sicherheit bringen mussten. Und daran, dass er bald überzeugt davon war, dass er hier im Matsch sterben würde. Von Ukrainern erschossen, von Panzergranaten zerrissen, von Drohnen bombardiert – oder von Russen exekutiert.
«Es war wirklich nicht so, wie sie es uns vorher erzählt hatten», sagt Thapa. Geld kam auch keines bei der Familie an, «die Überweisungen auf das russische Konto habe ich bekommen, zwar nicht den ganzen Betrag, aber das meiste». Nur liess sich das Geld von der App nicht nach Nepal transferieren. Darum suchte er sich einen nepalesischen Mittelsmann, der das für ihn erledigen sollte. Aber dieser Landsmann hat das Geld wohl selbst eingesteckt.
Die Angst vor den Russen verfolgt ihn bis in den Himalaja
Nach vier Monaten im Krieg in der Ukraine lief Ganesh Thapa davon. Er zog sich die russische Uniform aus, die er über seine Zivilkleidung gezogen hatte, und versteckte sich ein paar Nächte in den Ruinen eines verlassenen ukrainischen Dorfes. Er fand einen Taxifahrer, der ihn für 80’000 Rubel, knapp 770 Franken, die paar Kilometer zurück nach Russland fuhr. Dort stellte er sich der Polizei, das war ein Risiko – aber auch eine gute Idee. So sieht er das heute.
Der Polizei habe er erklärt, dass er ein Opfer von Menschenhandel geworden sei und wieder nach Hause wolle. Die Polizei kontaktierte die nepalesische Botschaft in Moskau. Es dauerte dann 56 Tage, bis er einen neuen Pass bekam und ausreisen durfte. 56 Tage, in denen er in einer Arrestzelle sass und sich jede Minute fragte, ob die russische Armee ihn doch noch erwischen würde. Er hat auch zu Hause, mitten im Himalaja, Angst, dass die Russen ihn finden.
Die Sonne ist untergegangen, es wird kühl. Die Kinder haben die Hausaufgaben gemacht, sich Pullis angezogen und spielen mit der Mutter und der Grossmutter Brettspiele. Irgendeine Idee muss Ganesh Thapa bald haben, denn alles hängt an ihm. Immerhin: Er lebt, das erscheint ihm wie ein Wunder.
Es ist vielleicht auch eins. Mehr als 200 Suchanträge von nepalesischen Familien, die Angehörige in Russland vermissen, zählt das Aussenministerium in Kathmandu. Ein direktes Gespräch dazu will man im Ministerium nicht führen, ein Mitarbeiter verweist auf das allgemeine Statement: «Wir haben Russland aufgefordert, die Rekrutierung nepalesischer Staatsangehöriger in seiner Armee sofort zu stoppen, diejenigen, die bereits in der Armee dienen, unverzüglich zurückzuschicken und die Leichen der Getöteten zu überführen.»
Nepalesische Tote sind kein grosses Problem für den Kreml. Und sie sind auch nicht besonders teuer. Umgerechnet 2680 Franken sind in Russland kein exorbitant hoher Sold. Anders als in Nepal, wo es sogar ein «Tal der Nieren» gibt, weil die Bewohner dort ihre Organe für rund 2900 Franken verkaufen, um ihre Familien zu ernähren. Wer nur noch sein Leben hat, handelt damit.
Wie viele Nepalesen mittlerweile tatsächlich als Söldner für Russland in den Krieg gezogen sind, weiss niemand. Auch aus Indien wurden Kämpfer rekrutiert. Beide Länder unterhalten gute Beziehungen zu Moskau.
Menschen aus den armen Regionen der Welt sind billig und haben keine Ahnung, worauf sie sich einlassen, wenn sie von der russischen Armee rekrutiert werden. «Ein Nachbar aus dem Dorf ist zwei Tage nach mir losgezogen», sagt Ganesh Thapa. Doch im Gegensatz zu ihm sei er nicht zurückgekommen. Wie er gestorben ist? «Eine Drohne, glaube ich.»

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