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Wer kann das Coronavirus unter Kontrolle bringen, wenn nicht Singapur?

Über ihr Telefon werden die Einwohner von Singapur auf Schritt und Tritt überwacht, um Kontaktpersonen von Covid-19-Kranken aufzuspüren. Foto: Edgar Su (Reuters)
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Online kann man heute fast alles tun. Sogar beten, wenn es nicht anders geht. So zum Beispiel in der Kirche Grace Assembly of God in Singapur. Die evangelikale Gemeinde hat in diesen Tagen aufs Online-Beten umgestellt. «J333» heissen die Angebote, ein Verweis auf Jeremia 33:3 in der Bibel: «Rufe mich an, so will ich dir antworten und will dir anzeigen grosse und gewaltige Dinge, die du nicht weisst.»

Tatsächlich wüsste man in diesen Zeiten gerne mehr über die gewaltigen Dinge, zum Beispiel, wie sich das Coronavirus eindämmen lässt. Aber eine Anfrage an die Kirche bleibt ohne Antwort. Vielleicht weil so viele Mitglieder am Lungenleiden Covid-19 erkrankt sind oder unter Quarantäne stehen. Epidemiologen nennen die Kirche mit ihren zwei Gotteshäusern einen «Cluster». 23 Coronavirus-Infektionen in Singapur gehen auf Menschen zurück, die hier gearbeitet oder gebetet haben.

«Wenn Singapur es innerhalb der nächsten zwei bis drei Wochen nicht schafft, das Virus unter Kontrolle zu bringen, wäre das besorgniserregend.»

Jeremy Farrar, Infektionsmediziner

Am Beispiel der Kirche lässt sich beschreiben und erkunden, wie der wohlhabende Stadtstaat seinen Kampf gegen das Virus führt. Und: Was in Singapur geschieht, wird entscheidend für die Welt sein. «Der wichtigste Ort, auf den wir jetzt blicken sollten, ist Singapur. Der Staat hat eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. Wenn Singapur es innerhalb der nächsten zwei bis drei Wochen nicht schafft, das Virus unter Kontrolle zu bringen, wäre das besorgniserregend. Dann wird es auch für alle anderen Länder extrem schwer.» So hatte es der Infektionsmediziner Jeremy Farrar im Gespräch erklärt. Singapur kämpft, mit vollem Einsatz und straffer Disziplin. Ein Staat wie ein Uhrwerk. Aber wird er es schaffen?

«Ich weiss nicht, wie lange man das alles durchhalten kann», sagt der Virologe Ooi Eng Eong von der National University of Singapore (NUS). «Die Anstrengungen sind beachtlich.» Dabei habe Singapur viel aus der Sars-Epidemie gelernt. «Damals hatten wir zu kämpfen.» Nach Sars wurde viel investiert, der Staat liess Krankenhäuser ausbauen, entwarf neue Notfallpläne. Nun hat jede staatliche Klinik Isolierstationen, es gibt viele Quarantäneplätze. Die Regierung hat eine Taskforce mehrerer Ministerien gebildet, die Koordination laufe besser, sagt Ooi.

Mit welcher Akribie der Stadtstaat daran arbeitet, Covid-19 einzudämmen, ist besonders gut sichtbar am sogenannten Tracing, dem Aufspüren möglichst aller Kontaktpersonen eines Infizierten. «In Singapur ist es immer noch so, dass die Mehrzahl der Fälle nachzuverfolgen ist», sagt Ooi. Ihre Zahl steigt, aber eher langsam. 96 sind es seit 23. Januar. 66 von ihnen sind wieder gesund, noch gibt es keinen Todesfall. In Singapur leben 5,7 Millionen Menschen.

«Wir stehen an der Kante»

«Ich denke, wir stehen an der Kante», sagt der Molekularbiologe Julien Lescar, der an der Nanyang Technological University (NTU) die Struktur von Viren erforscht. «Bisher scheint alles unter Kontrolle zu sein, aber ich habe keine Kristallkugel. Zumindest sehen wir kein exponentielles Wachstum in Singapur. Und das ist gut.»

Und doch ist die Bedrohung präsent. «Dieser Erreger ist viel schwieriger zu bekämpfen als Sars», sagt Lescar. Was mit dessen Struktur zu tun hat. «Seine Affinität zu den Rezeptoren menschlicher Zellen ist höher als bei Sars.» Er ist damit infektiöser. Aber wie gross ist die Ansteckungsgefahr, wenn ein Infizierter nur leichte oder gar keine Symptome zeigt? Genau weiss man das nicht. «Wenn Leute kaum Symptome zeigen, das Virus aber weitergeben, dann ist das der schlechteste anzunehmende Fall.» Ob das häufig geschieht, werde man erst in einigen Wochen sehen, sagt Lescar.

Menschen, die Kontakt zu Erkrankten hatten, müssen sich in Quarantäne begeben, wie die Kirchgänger. So versucht der Staat, verschiedene Cluster «einzuzäunen», wie sie es in Singapur bildlich nennen. 2842 «enge Kontakte» zu Infizierten hat der Staat bisher auf der Insel unter Quarantäne gestellt.

Selbst ein so straff geführter Staat wie Singapur erlebt in der Viruskrise herbe Überraschungen.

Wer vom Osten zur Kirche will, nimmt am besten ein Taxi über den Highway. In gewöhnlichen Zeiten ist das einfach, nun aber mühsam. Per Taxi-App bekommen Fahrer den Zielort des Kunden auf ihren Schirm, sie klicken auf «akzeptieren», wenn sie die Tour wollen. Aber die Kirche? Da will keiner hin. Es dauert lange, bis einer die Fahrt annimmt. Und er tut es nur, weil er dringend einen Kunden braucht. «Viele Leute bewegen sich nicht mehr, arbeiten von zu Hause», sagt der Fahrer.

Ankunft in Bukit Batok, Blick auf das Tor der Kirche: Alles ist verriegelt. An Samstagen strömen gewöhnlich viele Gläubige ins Gotteshaus, evangelikale Kirchen haben Zulauf, diese hier ist umgeben von bunten Wohnblocks, aber nun ist sie ein geisterhafter Ort. Niemand weit und breit. Als hätte jemand eine unsichtbare Barriere gezogen.

«Singapur ist sehr organisiert», sagt Lescar, aber eben auch ein kleines Land, in dem man Infektionen leichter auf die Spur kommt. «Ich bin nicht sicher, ob das, was für Singapur gilt, übertragbar ist auf grössere Staaten, etwa Frankreich, Deutschland oder Italien.»

Das Aufspüren von Kontaktpersonen gelingt in Singapur aus verschiedenen Gründen besser als anderswo. Der Staat hat sein wachendes Auge in Gestalt von Kameras fast überall. Jeder Bewohner ist ausserdem durch seine Telefonnummer erfasst. Die Teams, denen 140 Spezialisten, sogenannte Tracing Officers angehören, können auf ein dichtes Datennetz zurückgreifen und erhalten Hilfe der Polizei, wenn sie jemanden suchen.

Lückenlose Überwachung

Ständig werden bei Zusammenkünften oder vor Gebäuden Temperaturen gemessen, Telefonnummern und Adressen vermerkt, Sitzpläne erstellt. Wer dieser Tage einen Seminarraum der Uni betritt, scannt oft einen QR-Code, so wird gespeichert, wer sich wann wo aufhält. Natürlich sind auch diese Methoden nicht lückenlos. In U-Bahnen und Bussen wird es kompliziert. Wer sitzt neben wem? Aber bislang gelang es, Verbindungen zwischen den meisten Infektionsfällen zu finden. Die Daten sind nützlich, um das Virus einzudämmen, aber auch ein Indiz dafür, dass Bürger wenige Möglichkeiten haben, sich staatlicher Überwachung zu entziehen.

Die Bereitschaft, sich dem Krisenmanagement eher klaglos zu unterwerfen, scheint unter Singapurern hoch zu sein. Manche sehen das als Beleg für ein starkes Vertrauen in den Staat. Und er schafft Anreize mitzumachen. Für jene, die in Quarantäne gehen, zahlt er ein Ausfallgeld von 100 Dollar am Tag, umgerechnet 70 Franken. Aber die Regierung droht auch: Wer Quarantäneauflagen bricht, muss mit harter Strafe rechnen. 7000 Franken oder sechs Monate Gefängnis. Oder beides.

Die Hysterie gipfelte im Horten von WC-Papier. Singapurer dürften sich nicht wie «Idioten» verhalten, schimpfte der Handelsminister daraufhin.

Es gibt viel staatliche Aufklärung, ein Whatsapp-Kanal liefert ständig Updates zur Lage und Ratschläge, es gibt enge Absprachen mit Schulen, Firmen, Universitäten. Aber selbst ein so straff geführter Staat erlebt in der Viruskrise seine herben Überraschungen. Als die Regierung vor zwei Wochen die Warnstufe hochsetzte auf das zweithöchste Level Orange, reagierten Leute mit Panikkäufen, häuften Instant-Nudeln in Einkaufswägen, Supermarktregale waren leer gefegt.

Die Hysterie gipfelte im Horten von WC-Papier. So besessen schienen manche vom Einkauf der Papierrollen, dass Singapurs Handelsminister Chan Chun Sing harsche Worte fand. Singapurer dürften sich nicht wie «Idioten» verhalten, schimpfte er vor Wirtschaftsvertretern. Das war nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt, fand aber über Tonaufzeichnungen den Weg nach draussen. Jene Singapurer, die ihre Landsleute im Panikmodus kaum wiedererkannten, fanden es gut, was der Minister da von sich gab.

Durch die Kirche Grace Assembly of God haben sich inzwischen Desinfektionsteams gearbeitet; Männer in weissen Schutzanzügen, Masken, Brillen und blauen Handschuhen, mit Sprühpistolen bewaffnet. Am Samstag soll die Kirche wieder öffnen. Online beten, das kann nicht ewig so gehen.