Fragen an Hans Ulrich ObristWas bedeutet «Ubuntu»?
Unser Autor erklärt einen Begriff, in dem ein revolutionärer Gedanke steckt.
Der Begriff «Ubuntu» bezeichnet eine Art und Weise, sich zu seiner Umwelt zu verhalten. Und zwar so, dass man bei allem, was man sagt und tut, an seine Mitgeschöpfe denkt und sie genauso wichtig nimmt wie sich selbst.
Darin steckt ein revolutionärer Gedanke. Denn wenn wir die Beweggründe anderer genauso respektierten wie unsere eigenen, dann gäbe es weniger Ungerechtigkeit, weniger Geringschätzung, weniger Krieg.
Bekannt gemacht haben Ubuntu Nelson Mandela und Desmond Tutu, die im Südafrika nach der Apartheid Ubuntu zum politischen Prinzip erhoben haben. Ungeachtet von Herkunft und Vorgeschichte sollte jeder das gleiche Recht haben, gehört zu werden und sich zu beteiligen.
Das Ubuntu-Prinzip hat sich von Südafrika aus rasch auf die ganze Welt ausgebreitet und massiven Widerhall im Kulturbetrieb gefunden, auch in der Kunstwelt. Wir scheinen oft zu vergessen, dass wir alle auf demselben Planeten leben und unser Schicksal, unsere Geschichte und unsere Zukunft uns allen gemeinsam ist. Ubuntu ist die Bedingung für unsere Chance zu überleben.
In diese Richtung argumentiert einer der grössten Denker unserer Zeit, der senegalesische Philosoph Souleymane Bachir Diagne. In seinem autobiografischen Werk «Le fagot de ma mémoire» – etwa: Das Bündel meiner Erinnerung – beschreibt er, wie er nach einer Kindheit im Senegal das britische und das französische Erziehungssystem kennen lernte und heute als Professor an der New Yorker Columbia Universität lehrt. Bachir Diagne hat sich mit dem französischen Strukturalismus ebenso beschäftigt wie mit islamischer Philosophie, und der stete Wechsel von Regionen, von Denk- und Lebensweisen führte ihn zu der Frage, ob sich eine Basis finden lasse, die für alle Menschen Gültigkeit hat.
In der postkolonialen Welt, in der wir leben, so erkannte Bachir Diagne, ist das Konzept des Universalismus – also die Vorstellung universell geteilter Werte, Normen und Ideale – problematisch geworden. Problematisch deshalb, weil jene, die das Universelle definieren, immer in einer Machtposition sind. Anstelle des Universalismus plädiert er deshalb zum einen für den Pluriversalismus, einen Dialog unterschiedlicher Stimmen, die niemals komplett einer Meinung sind, sich aber punktuell immer wieder überschneiden. Und zum anderen für Ubuntu, als Voraussetzung dieses Dialogs, damit wir gemeinsam bestehen können. Denn eine andere Wahl haben wir nicht.
Souleymane Bachir Diagne: Le fagot de ma mémoire. Éditions Philippe Rey, Paris 2021.
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