Weekend-Tipp für WaghalsigeTräumen über dem Abgrund
Bei Frutigen im Kanton Bern können abenteuerliche Gemüter direkt am Fels auf sogenannten «Portaledges» übernachten. Unser Autor hat es trotz mulmigem Gefühl ausprobiert.
Dieser Artikel stammt aus der Schweizer Familie
Eines ist klar: Dies wird die ungewöhnlichste Übernachtung meines Lebens! Denn mein Bett hängt oberhalb von Frutigen, in der steilen Westwand des Gehrihorns. Wobei der Begriff Bett eigentlich nicht richtig ist: Was da hoch über dem Abgrund baumelt, ist vielmehr ein Aluminiumrahmen, bespannt mit reissfestem Stoff und ausstaffiert mit Spanngurten. Bohrhaken halten das Konstrukt am Fels. Portaledge nennt sich diese luftige Schlafgelegenheit, was so viel wie «tragbare Felskante» bedeutet. Extremkletternde übernachten darin, wenn sie tagelang in steilen Wänden unterwegs sind.
Mich fasziniert Nervenkitzel seit jeher – und damit auch die Idee, in der Luft schwebend zu übernachten. Jetzt kann ich den Plan endlich einmal umsetzen, ohne dafür in die Eiger-Nordwand oder in die berüchtigten «Big Walls» im amerikanischen Yosemite-Nationalpark steigen zu müssen. Denn hiesige Bergführer bieten das Portaledge-Abenteuer mittlerweile als Special an – zum Ausprobieren.
Hoch hinaus
So auch Peter Frick, der vor zehn Jahren in der Schweiz als Erster die Idee zu diesen speziellen Freiluftübernachtungen hatte. «Ich wollte anderen dieses besondere Naturerlebnis ermöglichen», erzählt der Chef der Kletterschule Guide4you in Frutigen BE.
Im Gegensatz zu anderen Anbietern befördert er die Kunden jedoch nicht etwa mit der Seilbahn in luftige Höhen und lässt sie danach am Seil zum Portaledge hinuntergleiten. Bei ihm gilt es stattdessen, sich mit Steigklemmen am Seil hinaufzuhangeln, um so eine möglichst reale Vorstellung vom Klettern zu bekommen. «Ausserdem lässt sich auf diese Weise die Angst vor der Höhe leichter überwinden», weiss der Bergführer aus langjähriger Erfahrung.
Also steigen wir um die Mittagszeit erst eine halbe Stunde auf schmalem Weg von der Alp Ober Gehrenen zum Fuss des Gehrihorns auf – beladen mit der Ausrüstung für die Nacht, Kletterzeug, Seilen und den kiloschweren Hängezelten. Wir, das sind zwei junge Frauen aus Engelberg und ich: Gemeinsam wollen wir das Abenteuer wagen. Und natürlich gehört auch Bergführer Christian Schranz dazu. Der 29-Jährige hat mit seiner umsichtigen Art schon kurz nach dem Abmarsch unser Vertrauen gewonnen.
Baumeln statt klettern
«Geht doch!», macht uns Christian Mut, als wir das Klettern mit den Steigklemmen proben. Der Zuspruch ist bitter nötig: Denn statt behände aufwärtszustreben, hänge ich am Übungsseil wie eine Marionette. Erst mit der Zeit bekomme ich die richtige Technik raus.
Nach der Ankunft am Gehrihorn bauen wir die Liegeflächen auf, und Christian hängt sie in die Felswand. Nun wird mir doch etwas mulmig – mit Blick auf die wackelige Bettstatt.
Vor dem Aufstieg serviert uns der Betreuer jedoch das Abendessen: einen bunten Salat und Nudelsuppe mit Wienerli. Dann noch kurz Zähne putzen, ein letzter Gang zur Toilette (weil das in der Nacht etwas kompliziert würde). Nun gibt es kein Zurück mehr. Ich schliesse den Klettergurt, hänge mich ins Seil ein und stosse mich vom festen Boden ab.
Peter Frick hat recht. Das Aufwärts beschäftigt mich dermassen, dass ich gar nicht merke, wie die Welt unter mir immer kleiner wird. Es dauert gefühlt eine Ewigkeit, dann ist es geschafft: Ich schwinge mich über den Rand des Portaledge. «Geht doch!», sagt Christian. Das Ziel ist erreicht.
Nun sichere ich mich auf dem Untersatz mit einem Klettergurt, den ich während des Schlafes tragen muss. Ich hänge meine Schuhe mit einem Karabiner an eine Sicherung und schlüpfe in den Schlafsack. Darin lehne ich mich bequem an die sonnenwarme Felswand und denke nicht mehr an den Abgrund.
Den Sternen ganz nah
Langsam legt sich die Dämmerung übers Land, und ich weiss nicht, worüber ich glücklicher bin: über das bestandene Abenteuer oder über den wunderbaren Ausblick auf den Thunersee und in die Weite der Alpen.
Nicht lange, und am Himmel glitzern die Sterne mit den Lichtern von Frutigen um die Wette. Geborgen und wie auf Wolke sieben schlafe ich in der Felswand ein und himmlisch tief durch – bis mich die ersten Sonnenstrahlen und der Duft von Kaffee wecken, Christian hat diesen auf dem Gaskocher gebraut. Es ist wirklich meine ungewöhnlichste Übernachtung – und eine der bequemsten.
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