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Zürcher Prozess gegen Chauffeur
Der Flixbus fuhr zu schnell durch den Schnee, dann kam es zum Unglück

Betonelemente stehen auf dem Autobahnanschluss A3W und verhindern die Zufahrt auf den "Stummel" der Sihlhochstrasse, aufgenommen am Donnerstag, 20. Dezember 2018 in Zuerich. (KEYSTONE/Ennio Leanza
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Am 16. Dezember 2018 verpasste ein Flixbus-Reisecar auf der Sihlhochstrasse die Abfahrtsrampe nach Zürich-Wiedikon. Stattdessen fuhr er geradewegs in den sogenannten Autobahn-Stummel – eine Sackgasse, wo die Brücke abrupt endet. Beim Aufprall gegen eine Betonmauer wurde eine 37-jährige Passagierin aus dem Car und in die zehn Meter darunter liegende Sihl geschleudert, wo sie bewusstlos ertrank. Der 61-jährige Zweitchauffeur, der neben dem Fahrer sass, wurde schwer verletzt und verstarb zwei Wochen später im Spital. 42 weitere Passagiere wurden verletzt.

Mehr als fünf Jahre später kommt es am Mittwoch zum Gerichtsprozess gegen den Chauffeur des Reisecars, der beim Unfall selbst schwer verletzt wurde. Die Zürcher Staatsanwaltschaft wirft ihm mehrfache fahrlässige Tötung, mehrfache fahrlässige Körperverletzung und fahrlässige grobe Verletzung der Verkehrsregeln vor. Die Staatsanwaltschaft beantragt eine zweijährige Freiheitsstrafe auf Bewährung. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Mit 68 km/h durch die Nacht – trotz Glatteis

In jener Dezembernacht ist der Reisecar unterwegs nach Düsseldorf. Er ist um 21.30 Uhr in Genua abgefahren, in Zürich sollte er gemäss Fahrplan in der Nacht auf Sonntag um 3.40 Uhr auf dem Carparkplatz halten. Auf der langen Reise wechseln sich zwei Fahrer am Steuer ab. Sie sind zum Zeitpunkt 61 und 57 Jahre alt, beide kommen aus Italien.

In Zürich hat es der 57-jährige Chauffeur mit widrigen Wetterbedingungen zu tun. Auf den Strassen liegen gefrorener Schnee und Schneematsch, darunter Glatteis. Am Ende der Sihlhochstrasse ist Tempo 60 erlaubt, angesichts der schlechten Strassenverhältnisse wären zum Unfallzeitpunkt 30 km/h für Reisecars und 40 km/h für Personenwagen angemessen, wie die Staatsanwaltschaft später in der Anklageschrift festhält. Der Unfallfahrer ist demnach aber mit 68 km/h unterwegs.

Es ist nicht bekannt, ob der italienische Chauffeur vom Autobahn-Stummel auf der Sihlhochstrasse wusste. Diese Besonderheit im Schweizer Strassenverkehr ist darauf zurückzuführen, dass die 1974 eröffnete Sihlhochstrasse einst als Südast des «Expressstrassen-Y» geplant war, welches die A1 und die A3 mitten in Zürich hätte verbinden sollen. Der Stummel ist ein Überbleibsel des nie fertiggestellten Ypsilon-Projekts und wird heute von Polizei und Rettungskräften als Wendeplatz genutzt.

Die eigentliche Strasse führt aber über eine Rechtskurve auf die Rampe, die von der Brücke abgeht. So zeigt es auch die Fahrspur an. In der Unglücksnacht vom Dezember 2018 sind die Bodenmarkierungen aber vom Schnee bedeckt.

Gemäss der Anklageschrift war der Car alleine auf der gut beleuchteten Sihlhochstrasse unterwegs. 266 Meter vor der Unfallstelle sei das Ende der Autobahn ausgeschildert gewesen. Der Beschuldigte habe die Signalisation übersehen, weil er entweder unaufmerksam war oder sich wegen der überhöhten Geschwindigkeit zu stark darauf konzentrieren musste, die Kontrolle über sein Fahrzeug zu behalten.

Verunfallter Reisecar in Zuerich am Sonntag, 16. Dezember 2018. Bei einem schweren Verkehrsunfall eines Reisecars auf der Autobahn A3 bei Zuerich ist am Sonntagmorgen eine Frau ums Leben gekommen. 44 Menschen wurden verletzt, drei davon schwer. Der Car war laut Polizei ins Schleudern geraten und prallte in die Mauer am Autobahnende. (KEYSTONE/Walter Bieri)

Der Beschuldigte sei deshalb ohne Vorwarnung mit 68 km/h auf das Ende der Sihlhochstrasse zugefahren. 136 Meter vor der Unfallstelle sei er ein erstes Mal auf die Bremse getreten. «Hektisch, völlig unüberlegt» habe er das Bremsmanöver nach einer knappen Sekunde abgebrochen, offenbar wegen ungenügender Sicht. Daraufhin habe er sogar noch einmal beschleunigt und sei «ins Ungewisse gefahren». Erst 42 Meter vor der Mauer habe er, nun bei einem Tempo von 64,4 km/h, eine Vollbremsung eingeleitet – zu spät, angesichts der hohen Geschwindigkeit und der vereisten Fahrbahn. Schliesslich sei der Bus mit 48 km/h in die Mauer geprallt.

Für die Staatsanwaltschaft wiegt besonders schwer, dass der Beschuldigte die Geschwindigkeit nicht den Verhältnissen angepasst habe. Die Fahrtgeschwindigkeit habe im Grenzbereich der «objektiven Beherrschbarkeit» des Reisecars gelegen und sei völlig unverantwortlich gewesen. Wäre der Chauffeur zum Zeitpunkt seiner Vollbremsung maximal 45 km/h gefahren, hätte er den Unfall vermeiden können, heisst es in der Anklage.

19 verletzte Passagiere haben einen Strafantrag gegen den Chauffeur eingereicht, 23 weitere Verletzte haben darauf verzichtet. 5 Personen blieben unverletzt. Der Beschuldigte verbrachte, eine Woche nach dem Unfall, 27 Stunden in Haft und kam gegen Kaution auf freien Fuss.

Bereits im März 2016 hatte sich an der gleichen Stelle ein schwerer Unfall ereignet. Damals fuhr ein Lastwagenfahrer auf eine Staukolonne auf. Beim Ausweichmanöver geriet er links auf den Pannenstreifen und schliesslich auf den Autobahn-Stummel.

Ein Lastwagen liegt in der Sihl waehrend Bergungsarbeiten der Feuerwehr, unter der Sihlhochstrasse in Zuerich, am Montag, 29. Februar 2016. Ein Lastwagen ist am Montagnachmittag auf der Sihlhochstrasse verunfallt und von der Bruecke in den Fluss hinunter gefallen. (KEYSTONE/Ennio Leanza)

Anders als beim Flixbus-Unfall gab die Absperrung nach: Der Lastwagen durchbrach die Mauer und stürzte zehn Meter in die Tiefe. Der Fahrer erlitt schwere Verletzungen an den Beinen, überlebte jedoch.