TV-Kritik «Tatort»Eine Sozialarbeiterin und ihr Schützling gegen den Rest der Welt
In Stuttgart wurde ein brutaler Raubüberfall verübt: Der neue «Tatort» ist eine Steilvorlage für den 17-jährigen Schauspieler Louis Guillaume.
Kein Wort fällt in den ersten drei Minuten, aber trotzdem bleibt keine Frage offen – entschieden ein couragierter Einstieg in einen Krimi. In Stuttgart haben kurz vor Ladenschluss drei schwarz gekleidete Bewaffnete ein Schmuckgeschäft überfallen und eine Kundin brutal getötet, während ein schmaler Junge in einem Hoodie draussen vor der Tür Schmiere stand. Der 13-jährige David gibt dem neuen «Tatort» den Titel und das Thema: «Zerrissen». Und sein Darsteller, der 2007 in Eisenach geborene Louis Guillaume, gibt ihm Klasse.
Hin- und hergerissen ist der feingliedrige Teen zwischen seiner Sippe und seiner Sozialarbeiterin, man könnte auch sagen: zwischen Böse und Gut oder zwischen Loyalität und Liebe. Sein Vater sitzt im Knast, sein grosser Bruder starb bei einem illegalen Autorennen, seine Mutter ist abgehauen, und seine beiden Cousins sowie seine Schwester haben sich auf Überfälle spezialisiert.
«Dann haben die Arschlöcher gewonnen»
Doch auf dem ländlichen Jugendhof, auf dem die Behörden den vulnerablen Buben untergebracht haben, gibt es eben diese starke, schöne, kampflustige Aro – Caroline Cousin als schier übertrieben kratzbürstige Bullenhasserin, die, wen wunderts, selbst einer dysfunktionalen Familie entstammt. Sie animiert ihren Schützling dazu, sich abzunabeln, seinen eigenen Weg zu gehen. «Wenn du das hier verbockst, dann haben die Arschlöcher gewonnen», predigt sie und meint damit den Rest der Welt. Wird die Beziehung zwischen den beiden ungesund?
Während David mit sich ringt und von Polizei wie Familie Druck erfährt, kommen die Kommissare Bootz (Felix Klare) und Lannert (Richy Müller) der Wahrheit – und einer grundlegenden Systemkritik – immer näher. Aber Davids Vettern sind mit allen Wassern gewaschen; besonders Mikel wird von Oleg Tikhomirov, ziemlich klischeehaft, als harter Hund und Pokerface-Profi gespielt. «Ich hab nichts gemacht», ist die Losung der Clanmitglieder.
Selbstironische Seitenhiebe
Diese Minimafia mit kasachischen Wurzeln hat gekonnt sämtliche Spuren beseitigt; jetzt soll bloss noch ein zufälliger Zeuge des Verbrechens liquidiert werden. Einen Wettlauf mit der Zeit hat sich das Drehbuchduo Sönke Neuwöhner und Martin Eigler also auch nicht nehmen lassen, obwohl der Fokus fraglos auf der Charakterzeichnung des Buben liegt und auf jener der – im Grunde wohlmeinenden – Gegenspielerin der Polizei, der es gelingt, einen Keil zwischen die Kommissare zu treiben. Da und dort erlaubten sich die Drehbuchautoren ausserdem selbstironische Seitenhiebe (einen Lacher beschert etwa Bootz’ genervte Frage an die Spurensicherung – und das Drehbuch – «was soll der Quatsch mit den Blättern?»).
Ähnlich verfährt Regisseur Martin Eigler auch inszenatorisch: In die konventionell auf Spannung gefilmten Szenen schneidet er immer wieder kontemplative Momentaufnahmen, mal aus der Vogelperspektive, mal herangezoomt. Zudem erlebt David halluzinative, sentimental-eskapistische Augenblicke, die überraschend nahtlos in die anderen Bildsequenzen eingepasst sind: kleine Storys in der grossen. «Zerrissen» ist eine durchaus reissfeste Sonntagabendunterhaltung.
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