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Ein Tag im Leben einer Suchthelferin
«Mein Job ist es, Menschen zu lassen, wie sie sind»

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Immer weniger Leute spritzen sich Heroin. Im Injektionsraum ist jedenfalls in letzter Zeit viel weniger los als im Raucherraum. Dort inhalieren die meisten Base, eine Form von Crack. Die Rauchies sind oft gestresst, weil sie nach zwanzig Minuten wieder draussen sein müssen. Die Spritzies hingegen können eine Stunde bleiben. Bei ihnen herrscht Ruhe. Im Injektionsraum ergeben sich die besten Gespräche.

Egal ob ich Früh- oder Spätschicht habe, vor neun Uhr stehe ich selten auf. Duschen, Zähneputzen. Dann die Zigi auf dem Balkon. Unterwegs zur Kontakt- und Anlaufstelle hole ich mir einen Flat White mit Hafermilch. Mein Arbeitstag beginnt im Büro.

Hier liegen die Listen. Auf einer steht, wer welchen Posten vorbereitet. Dann checke ich die Liste, auf der steht, wer bei uns gerade Hausverbot hat. Wir tolerieren weder Gewalt noch Beleidigungen noch Vandalismus. Der Sanktionskatalog steht auf einer anderen Liste. Wir führen sogar eine Liste, auf der steht, wo welche Liste liegt. Im Büro diskutieren wir auch, wer auf welchem Posten beginnt. Meistens sind wir zu fünft.

Eine Stunde lang bin ich die Türsteherin im Innenhof. Hier tummeln sich die Besuchenden, machen Tauschgeschäfte. Die mit Kola tun sich zusammen mit denen, die Ammoniak haben, um Base aufzukochen. Ein richtiger Basar. Ich schaue, dass sich alle an die Regeln halten, ab und zu rauche ich eine Zigi.

Dann sitze ich eine Stunde vor dem Raucherraum. Durch eine Scheibe sehe ich, ob drinnen alles friedlich ist. Ich gebe Alufolie raus, worauf Sugar verbrannt wird, und saubere Röhrchen, durch die Kola gezogen wird. Oft falte ich nebenher Origami-Tiere. Ein Kollege hat damit angefangen, als er das Rauchen aufgab. Aus Papier Figuren zu formen ist definitiv die gesündere Sucht, als sich daraus Zigis zu drehen.

Beim nächsten Posten im Injektionsraum verteile ich sterile Spritzen und Löffel, achte darauf, dass keine benutzten Nadeln offen herumliegen. Wenn ich dazu komme, rede ich mit den Leuten. Lässt es die Stimmung zu, frage ich nach ihren Geschichten.

Eine zierliche Dame besucht uns oft mit ihren beiden Töchtern. Sie rauchen Base und fixen. Bis auf die Jüngste, sie raucht nur Sugar. Sie ist immer fresh geschminkt und vor allem taff. Etwas an ihr erinnert mich an mich selbst.

Als ich vor zwei Jahren anfing, kam regelmässig ein junger Typ hierher – ein paar Jahre jünger als ich, still und höflich. Einmal erzählte er mir, dass er bald Vater werde. Ein Jahr später hatte er sich totgefixt.

Von meiner Arbeit nehme ich eigentlich nichts heim. Psychohygiene ist wichtig. Lachen hilft. Die Leute sind teilweise sehr lustig. Wie letztens eine kurzhaarige Frau: Um Sugar zu rauchen, nahm sie ihr Gebiss raus, damit es nicht fleckig wird. Als sie dann drauf war, suchte sie es. Sie hatte es verlegt. «Habs gefunden!», rief sie, als es wieder auftauchte.

Abgestumpft bin ich nicht. Ich habe auch keine Angst davor, dass ich abstumpfen könnte. Denn ich rede mit den Besuchenden. Und je mehr ich über sie weiss, desto weniger Platz gibt es für Gleichgültigkeit.

Ich glaube, ich bin gut in meinem Job. Weil mir die Süchte nicht den Blick auf die Menschen nehmen. Und weil ich akzeptiert habe, dass es nicht meine Aufgabe ist, sie zu retten. Einige in meiner Familie sind drogenabhängig. So musste ich lernen, dass ich gegen die Süchte anderer machtlos bin.

Die besten Tage sind die, an denen ich am Schluss die Theke bediene. Hier verteilen wir Tee, verkaufen Schoggistängeli, Kaffee und was uns die Schweizer Tafel gerade liefert. Besuchende helfen hier mit und können sich etwas dazuverdienen. Ist es mein letzter Posten, putze ich die Tische, die Theke aus Glas und Edelstahl. Dazu Techno über die Anlage, so richtig laut, damit die Leute gehen.

Protokoll: Maximilian Jacobi