Abstimmung Stromgesetz Politiker liebäugeln mit noch mehr Stauseen
Mit dem Stromgesetz können 16 Wasserkraftprojekte erleichtert gebaut werden. Nun wollen bürgerliche Politiker die Liste nach dem 9. Juni erweitern – Alpenschützer sind alarmiert.
Liegen die Umfragen richtig, wird das Stimmvolk das Stromgesetz am 9. Juni gutheissen – und damit auch eine Liste von 16 Wasserkraftprojekten, die erleichtert realisiert werden können. Bei 13 davon handelt es sich um bestehende Stauseen, bei denen zum Beispiel die Staumauer erhöht wird, die restlichen drei sind neue Vorhaben. Die bekanntesten sind die geplanten Stauseen Trift im Kanton Bern sowie Gornerli im Wallis.
Nun aber liebäugeln bürgerliche Parlamentarier bereits damit, nach der Abstimmung neue Projekte ins Gesetz aufzunehmen. «Selbst wenn alle 16 Wasserkraftprojekte gebaut werden, reicht die Stromproduktion nirgends hin», sagt FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen. Es brauche deshalb mehr umsetzbare Projekte. «Je mehr neue Wasserkraftwerke in der Pipeline sind, desto besser.» SVP-Nationalrat Christian Imark* sagt, es sei normal, dass Bundesbeschlüsse «nicht bis in alle Ewigkeit Bestand» hätten. «Das trifft auch auf die Wasserkraftprojekte zu.» Andere befragte Bürgerliche sehen es ähnlich, wollen sich aber vor der Abstimmung nicht öffentlich dazu äussern.
Steht ein Vorhaben einmal auf dieser Liste im Gesetz, profitiert es zweierlei. So gibt es keine Nutzungsplanung, betroffene Gemeinden können also nicht darüber abstimmen. Zwar können Umweltverbände im Rahmen des Baubewilligungsverfahrens Einsprache erheben. Allerdings hat das Parlament diesen Projekten einen «grundsätzlichen Vorrang des Interesses an ihrer Realisierung» gegenüber Natur- und Landschaftsschutzinteressen eingeräumt. Rekurse dürften es vor Gericht also schwer haben.
Referendum möglich
Mit den 16 Projekten wollen die Befürworter des Stromgesetzes 2 Terawattstunden zusätzlichen Strom für den Winter gewinnen. Das Gesetz lässt aber auch eine höhere Strommenge zu – und damit weitere Projekte. Eine Ausweitung der Liste müsste das Parlament beschliessen, ein Referendum dagegen wäre möglich.
Die Planspiele der bürgerlichen Parlamentarier beunruhigen die internationale Alpenschutzkommission Cipra, die sich länderübergreifend für den Schutz und die nachhaltige Entwicklung des gesamten Alpenraums einsetzt. Die Schweiz sei heute schon der einsame Spitzenreiter bei der Gewässernutzung, sagt Geschäftsführer Kaspar Schuler. «In diesem Licht erscheinen die Absichtserklärungen dieser Schweizer Parlamentarier als zynischer Affront.»
Sehr kritisch reflektiert Schuler die Rolle der Umweltorganisationen, die das Stromgesetz befürworten. Sie hätten sich von den «falschen Versprechen einer massvollen Anwendung» des Gesetzes beschwichtigen lassen. «Sie wollten endlich den Durchbruch bei der Energiewende schaffen. Doch sie wurden offensichtlich über den Tisch gezogen.» Statt nur ausgesuchten hochalpinen Neu- und Ausbauprojekten den Weg zu ebnen, würden mit dem Stromgesetz in Tat und Wahrheit die Gesetzgebungen im Bereich des Gewässer-, Natur- und Landschaftsschutzes flächendeckend durchlöchert.
15 Projekte priorisiert
Die Befürworter des Stromgesetzes entgegnen, der Bundesrat sei ohnehin beauftragt, die Projektliste regelmässig zu überprüfen. Zudem würden dank der Vorlage Konflikte mit dem Natur- und Artenschutz minimiert, weil mehr als 80 Prozent des geplanten Ausbaus der Erneuerbaren durch Solarenergie auf Gebäuden erfolgen solle.
Eine besondere Bedeutung im aktuellen Konflikt kommt dem WWF und Pro Natura zu. Die beiden Umweltverbände haben ab 2020 an einem vom Bund initiierten Runden Tisch zur Wasserkraft teilgenommen. Zusammen mit der Stromwirtschaft, den Kantonen sowie dem Bund einigten sie sich schliesslich auf 15 Wasserkraftprojekte, die möglichst viel Strom bei gleichzeitig möglichst geringen Auswirkungen auf die Umwelt versprechen – alle 15 sind nun Teil des Stromgesetzes.
Bereits damals war aber klar, dass es mehr Standorte gibt, die für die Stromwirtschaft interessant sind. Neben den 16 Projekten im Stromgesetz sind mittlerweile mehr als 20 potenzielle Kandidaten bekannt; sie liegen teils in Schutzgebieten wie etwa der See am Fuss des Rhonegletschers, der Teil des Bundesinventars der Landschaften und Naturdenkmäler ist. Mit dem Projekt «Chlus» im Kanton Graubünden hat das Parlament bereits ein Projekt ins Stromgesetz aufgenommen, das der Runde Tisch Wasserkraft nicht berücksichtigt hatte.
Umweltverbände kontern Kritik
Haben sich die Umweltverbände über den Tisch ziehen lassen, wie Schuler von Cipra sagt? Pro Natura und der WWF Schweiz widersprechen vehement. Am Runden Tisch Wasserkraft seien die richtigen 15 Projekte identifiziert worden, um die Versorgungssicherheit bei minimalem Umwelt-Impact zu stärken, sagt WWF-Schweiz-Sprecher Jonas Schmid. «Auf diese Grossprojekte sollte man sich jetzt konzentrieren.» Erste Gespräche fänden nun bereits in einem «konstruktiven Dialog» statt, etwa beim Grimselprojekt. Dort habe der Energieversorger KWO am Dienstag das Konzessionsgesuch für die Staumauererhöhung und Vergrösserung des Grimselsees beim Kanton Bern eingereicht.
An die Adresse von Politikern wie Imark und Wasserfallen sagt Schmid: «Die Politik sollte den positiven Geist des Runden Tischs unterstützen – und nicht torpedieren.»
¨¨¨Ähnlich tönt es bei Pro Natura. «Wir erwarten, dass sich alle Unterzeichnenden des Runden Tisches Wasserkraft an die Vereinbarung halten», sagt Michael Casanova, Projektleiter Gewässerschutz- und Energiepolitik. Pro Natura sei nicht bereit, zu akzeptieren, dass zusätzliche Projekte mit einer schlechten Umweltbilanz per Gesetz durchgeboxt werden sollen. Die ökologischen und ökonomischen Kosten seien zu hoch, der Bedarf für die Energiewende sei nicht gegeben.
* SVP-Nationalrat Christian Imark legt Wert auf die Feststellung, dass die Idee einer Erweiterung der Wasserkraftprojekte nicht von ihm stamme und schon gar nicht seinen Prioritäten entspreche. Zuerst solle man sich über die drängenden Fragen der Kernenergie beugen. Hier gehe es um die Verlängerung bestehender Werke sowie um die Streichung des Neubauverbots. Seien diese Probleme gelöst, sehe er keinen Grund, die Wasserkraft-Projekte nicht zu erweitern.
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