Studenten unter SpionageverdachtPlötzlich sassen auffällig diskrete Chinesen in der Lausanner Uni-Bibliothek
Der Druck des chinesischen Nachrichtendienstes auf die Schweiz nimmt seit Jahren zu. In einer Bibliothek auf dem Campus von Uni und ETH Lausanne schritt die Polizei ein.
Haben chinesische Agenten am Militärflugplatz Meiringen jahrelang ein Hotel betrieben mit dem Ziel, hinter die Geheimnisse des US-Kampfjets F-35 zu kommen? Einen direkten Beweis gibt es dafür nicht. Aber die Indizien reichten der Berner Kantonspolizei offenbar aus, um das Hotel im Spätsommer in einer diskreten Aktion zu räumen.
Wegen des Verdachts auf chinesische Spionage wurden die Behörden in den letzten Jahren auch andernorts aktiv. Zum Beispiel auf dem Campus der Universität und der ETH Lausanne, wo sich im Spätherbst 2018 in der öffentlich zugänglichen Bibliothek des Schweizerischen Instituts für Rechtsvergleichung eine Gruppe Chinesen installiert hatte. Das zeigen Recherchen dieser Redaktion.
Die Gäste waren dem Institut, das unter der Aufsicht des Bundesrats steht und administrativ dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement zugeordnet ist, ein Rätsel. Ihre Tage verbrachten sie in der Bibliothek, ihre Köpfe hatten sie in Büchern vergraben. Sie blieben diskret, selbst bei Pausen in der Teeküche. Wenn sie redeten, dann untereinander. Den Institutsbetrieb störten sie also nicht. Und doch fragte man sich vor Ort bald: Wer sind diese Männer, und was machen sie da?
Gegenleistung für Stipendien der Volksrepublik
Einem Institutsmitarbeiter gelang es schliesslich, mit den «Studenten» in Kontakt zu treten. Sie sagten ihm, die Volksrepublik habe sie mit Stipendien an den Genfersee entsandt, um dort an Doktorarbeiten zu schreiben. Später sollten sie in ihre Heimat zurückkehren und müssten als Gegenleistung zwei Jahre lang für den Staat arbeiten. Daran schien nichts anrüchig zu sein. Doch was wäre, wenn die Arbeit an Dissertationen eine Tarnung war? Was wäre, wenn die emsigen Doktoranden in Wahrheit Spione waren?
Bald tauchten zwei Waadtländer Kantonspolizisten im Institut auf. Die Beamten boten den Hausjuristen, den Bibliothekar und die Rezeptionistin zu einer internen Sitzung auf. Die Botschaft der Polizisten war: Spioniert wird überall, auch am Institut für Rechtsvergleichung ist Vorsicht geboten. Die Institutsmitarbeiter sollten auf auffälliges Verhalten achten, vor allem bei Leuten, die nicht zum Institut gehören. Konkreter wurden die Beamten nicht. Doch im Institut war fortan klar: Man sollte die Chinesen in der Bibliothek im Blick behalten.
Prävention im Namen der Regierungsrätin
Einer der Polizisten hinterliess seine Telefonnummer und bat um Informationen, falls jemand Auffälliges beobachte. Der erfahrene Ermittler mit einer Vergangenheit bei der päpstlichen Garde und der Bundespolizei besuchte das Institut als Mitarbeiter des Nachrichtendienstes der Kantonspolizei, die wiederum dem Nachrichtendienst des Bundes (NDB) zuarbeitet und von diesem finanziert wird. Auf eine Anfrage dieser Redaktion reagierte er nicht. Um seinem Besuch zusätzlich Gewicht zu geben, betonte er im Institut, Regierungsrätin Béatrice Métraux, verantwortlich für Justiz und Polizei, habe ihn hingeschickt.
Métraux bestätigt diese Aussage. Die Juristin hat selbst während 16 Jahren am Institut für Rechtsvergleichung gearbeitet. Sie sagt, die Kantonspolizei habe ihr 2018 das Programm Prophylax des NDB präsentiert, das Unternehmen und Institutionen vor Wirtschaftsspionage schützen soll.
Sie habe daraufhin einen Besuch im Institut für Rechtsvergleichung empfohlen, schliesslich pflege dieses Kontakte in viele Länder, entsprechend auch zu Ausländern. Sie habe gedacht, das präventive Programm könnte das Institut interessieren, so die grüne Politikerin, die unter anderem als Mitglied einer Findungskommission mithalf, einen neuen Schweizer Geheimdienstchef zu finden. 2022 ist sie als Waadtländer Justizdirektorin zurückgetreten.
Eine NDB-Sprecherin teilt auf Anfrage mit, man gelange mit dem Präventionsprogramm Prophylax und dem Programm Technopol seit 2013 speziell an Universitäten, Hochschulen und Forschungsinstitute, um sie auf potenzielles Missbrauchspotenzial hinzuweisen. Darüber hinaus wolle man sich aber weder zu einzelnen Fällen noch zu Aktionen an Instituten und Universitäten und operationellen Erkenntnissen und Vorgehensweisen äussern.
Im Fokus der Geheimdienste
Ariane Knüsel, Historikerin an der Universität Freiburg, gehört zu jenen Wissenschaftlerinnen, die chinesische Geheimdienstkreise regelmässig angehen, wie sie selbst darlegt: Man biete ihr eine wissenschaftliche Zusammenarbeit an oder wolle sie als Herausgeberin wissenschaftlicher Zeitschriften rekrutieren, die es gar nicht gebe. In anderen Fällen bitte man sie um die Herausgabe wissenschaftlicher Recherchen – oder sie bekomme E-Mails mit einem Link zu einer Malware, um Zugang zu ihrem Rechner zu erlangen.
Die Gründe liegen in ihrem Fall auf der Hand. Knüsels Forschungsgebiet ist der chinesische Nachrichtendienst im Westen. Zu Geheimdienstarchiven, insbesondere dem schweizerischen, hat sie als Wissenschaftlerin privilegierten Zugang.
Ariane Knüsel sagt: «Der Druck des chinesischen Nachrichtendienstes auf die Schweiz hat in den letzten zehn Jahren massiv zugenommen. China hat enorm viele Nachrichtendienstoffiziere in den Westen geschickt, auch in die Schweiz.» Die Spione hätten nicht in jedem Fall den Auftrag, Wissen abzugreifen oder Dokumente zu beschaffen. Es gehe auch darum, chinesische Staatsbürger zu beobachten, zu kontrollieren, unter Druck zu setzen.
Spione würden Landsleuten im Westen oft damit drohen, dass das Wohlergehen ihrer Familienangehörigen in China gefährdet sein könnte. Oft gehe es den Geheimdienstoffizieren darum, Landsleute auf diesem Weg dazu zu bringen, geheimes Wissen in ihren Heimatstaat zu transferieren.
In anderen Fällen versuchten sie, chinakritische Forschung zu unterbinden, indem sie Forschern signalisierten, sie würden kein Visum für einen Chinabesuch mehr bekommen. «Universitäten gehören zu den Spionagehotspots», sagt die Historikerin.
Dass der Schweizer Nachrichtendienst auch an Hochschulen wie jenen in Lausanne aktiv vor Spionage warnt, hält Ariane Knüsel für legitim. Aber im selben Satz warnt sie vor der Gefahr, in jedem chinesischen Studenten oder Akademiker einen Spion oder Informanten zu sehen.
Chinese verschwand plötzlich
Auf dem Lausanner Hochschulcampus sind heute weit über 100 Unternehmen angesiedelt. Prominent ist der EPFL Innovation Park. Er besteht aus kleinen Spin-offs bis hin zu Laboratorien von Konzernen wie Nestlé, Logitech, SBB oder Schindler. Wirtschaftsspionage ist dort ein Thema, wenn auch kein offen diskutiertes. Es gab einzelne Verdachtsfälle von Spionage, die bis heute schwer einzuordnen sind.
In einem Fall absolvierte ein chinesischer Staatsangehöriger in einem Start-up-Unternehmen ein Kurzpraktikum. Der junge Mann verschwand über Nacht. Verabschiedet hatte er sich nicht. Der Fall wurde auch der Waadtländer Justiz gemeldet. Der Praktikant blieb physisch unauffindbar. Jegliche Versuche, ihn sonst wie zu kontaktieren, scheiterten. Ob er spioniert hatte, liess sich nie klären.
Ariane Knüsel erstaunen Fälle wie diese nicht. In ihrer Forschung stiess sie auf Beispiele, in denen der chinesische Geheimdienst chinesische Wissenschaftler bat, in Europa gezielt in bestimmten Branchen zu arbeiten, wo China Know-how brauchte. Andere seien vom Nachrichtendienst rekrutiert worden, als sie bereits in solchen Branchen arbeiteten. «In den 1980er- und 1990er-Jahren wurden chinesische Arbeiter als Praktikanten temporär in Schweizer Unternehmen geschickt», sagt die Historikerin. Dort habe es dann auch immer wieder Fälle gegeben, in denen Praktikanten versucht hätten, sich Zugang zu anderen Bereichen zu verschaffen.
Und die chinesischen Studenten in der Lausanner Institutsbibliothek? Sie verschwanden von einem Tag auf den anderen.
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