Medienprozess in ZugSpiess-Hegglin will Hunderttausende Franken vom «Blick»
Jolanda Spiess-Hegglin fordert vor Gericht den Gewinn heraus, den das Medienhaus Ringier mit persönlichkeitsverletzenden Artikeln gemacht hat. Die Schweizer Verleger befürchten weitreichende Konsequenzen.
- Jolanda Spiess-Hegglin fordert die Herausgabe von Gewinnen, die das Medienhaus Ringier mit persönlichkeitsverletzenden Artikeln gemacht habe.
- Am Mittwoch befasst sich das Kantonsgericht in Zug mit der Frage.
- Das Urteil könnte weitreichende Konsequenzen für die Medienbranche haben.
- Der Verlegerverband befürchtet negative Folgen für die Pressefreiheit.
Die Artikel tragen Titel wie «Sex-Skandal in Zug: Alles begann auf der MS ‹Rigi›» oder «Jolanda ‹Heggli› zeigt ihr ‹Weggli›». Sie sind alle im Nachgang zur Zuger Landammannfeier vom Dezember 2014 entstanden – und beschäftigen nun noch einmal die Justiz.
Es geht dabei nicht um die Frage, was vor bald zehn Jahren zwischen der damaligen grünen Kantonsrätin Spiess-Hegglin und dem SVP-Politiker Markus Hürlimann geschah. Sondern um eine medienrechtliche Frage von grosser Brisanz: Das Gericht muss am Mittwoch darüber befinden, wie viel Gewinn das Medienhaus Ringier mit insgesamt vier Artikeln gemacht hat, mit denen die Persönlichkeitsrechte von Jolanda Spiess-Hegglin verletzt wurden.
Spiess-Hegglin hofft, dass sich aus ihrem Fall eine Formel ableiten lässt, mit der künftig Opfer von Persönlichkeitsverletzungen Medienhäuser auf Gewinnherausgabe verklagen könnten. Die Verlage befürchten schwerwiegende Folgen für die tägliche Arbeit der Redaktionen. «Verheerend» für die Medienfreiheit in der Schweiz wäre ein Urteil im Sinne von Jolanda Spiess-Hegglin, schreibt Ringier in einem Statement.
Entsprechend gross ist die Aufmerksamkeit, die der Gerichtsprozess in Zug erhält.
Bereits 10’000 Franken Genugtuung erhalten
Für Spiess-Hegglin ist es nicht die erste Klage gegen Ringier: Im August 2020 erhielt sie vom Zuger Obergericht eine Genugtuung von 10’000 Franken zugesprochen, weil mit dem ersten Artikel zur sogenannten Landammann-Affäre die Persönlichkeitsrechte der Zuger Kantonspolitikerin schwer verletzt worden waren.
Im jetzigen Gerichtsverfahren geht es um die Frage, wie viel Gewinn Ringier mit den vier Artikeln gemacht hat, die von Ende 2014 bis September 2015 im «Blick», im inzwischen eingestellten Gratismedium «Blick am Abend» sowie auf «Blick online» erschienen sind.
Dass Jolanda Spiess-Hegglin der Gewinn für die Artikel zusteht, weil diese ihre Persönlichkeitsrechte verletzt haben, hat das Zuger Kantonsgericht bereits im Juni 2022 entschieden – und das Medienhaus Ringier dazu verpflichtet, Angaben zur Printauflage, zu den Aboverkäufen, den Seitenaufrufen und den Werbeanzeigen herauszugeben.
Ringier: «Willkürlich»
Die zentrale Frage ist nun, wie hoch der Gewinn ist. Denn hier gehen die Annahmen der beiden Streitparteien weit auseinander: Spiess-Hegglin verlangt für die vier Artikel – nach Angaben von Ringier – rund 430’000 Franken, zuzüglich 5 Prozent Zinsen seit dem Erscheinen der Artikel. Das würde total rund 640’000 Franken für die vier Beiträge ergeben. Die Anwältin von Spiess-Hegglin, Rena Zulauf, will die Zahl vor der Gerichtsverhandlung am Mittwoch nicht kommentieren.
Fest steht, dass beide Seiten ihre eigenen Gutachten beim Zuger Kantonsgericht eingereicht haben – und dass die Streitparteien zu grundlegend anderen Ergebnissen kommen: Spiess-Hegglins Forderung sei «willkürlich und entbehrt jeder Grundlage», schreibt Ringier auf Anfrage. Der damals erzielte Gewinn entspreche «höchstens» einem sehr kleinen Bruchteil der geltend gemachten Summe, so die Herausgeberin des «Blicks».
«Schlüssel» für zukünftige Medienopfer?
Jolanda Spiess-Hegglin äusserte nach dem ersten Urteil des Zuger Kantonsgerichts die Hoffnung, dass es nach der nun anstehenden Hauptverhandlung eine Formel gäbe, die dann von allen künftigen Medienopfern als «Schlüssel» genutzt werden könne.
Tatsächlich ist es das erste Mal in der Schweizer Mediengeschichte, dass der Gewinn von einzelnen Artikel gerichtlich errechnet wird. Zwar gab es schon früher wegweisende Urteile in der Frage – so hatte das Bundesgericht 2006 dem Vater der Tennisspielerin Patty Schnyder wegen persönlichkeitsverletzender Artikel grundsätzlich Anspruch auf Herausgabe des Gewinns zugesprochen. Da es damals jedoch zu einer aussergerichtlichen Einigung kam, wurde nie definiert, wie sich dieser Gewinn genau zusammensetzt.
Stärkung des Qualitätsjournalismus?
Einer, der an Spiess-Hegglins Formel für die Gewinnausgabe mitarbeitet, ist Hansi Voigt. Der langjährige Chefredaktor von «20 Minuten online» und Gründer des Onlineportals «Watson» ist heute Präsident von Netzcourage, einem von Spiess-Hegglin gegründeten Verein mit dem Ziel, Hass im Netz zu bekämpfen. Er ist Mitautor des Gutachtens, das Spiess-Hegglins Anwältin vor Gericht präsentieren wird. Für Voigt ist klar: «Ein Urteil, das die Gewinnherausgabe regelt, wäre kein Schlag gegen den Qualitätsjournalismus – sondern würde diesen stärken.»
Eine griffige Formel hätte eine präventive Wirkung, ist Voigt überzeugt. «Der ‹Blick› hat meiner Meinung nach das Urteil bereits vorweggenommen und würde nie mehr eine solche Totschlagkampagne fahren wie 2015 gegen Jolanda Spiess-Hegglin.» Ein Präzedenzurteil würde laut Voigt auch andere Medien dazu bewegen, sich zweimal zu überlegen, ob sie potenziell persönlichkeitsverletzende Kampagnen publizieren und einander «unhinterfragt abschreiben».
Bisherige Praxis sei ausreichend
«Extrem problematisch» findet hingegen Andrea Masüger die Forderung. Der Präsident des Schweizer Verlegerverbands sieht die Gefahr, dass «Fantasiesummen gefordert werden». Er stellt sich auf den Standpunkt: Zu berechnen, wie viel Gewinn mit einzelnen Artikeln gemacht worden sei, sei unmöglich. «Die Vorstellung, dass ein Medium mit der Berichterstattung zu einem einzelnen Thema gross Kasse macht, ist falsch.»
Klar sei, dass die journalistische Sorgfalt eingehalten werden müsse. Im Fall Spiess-Hegglin sei offensichtlich nicht alles gut gelaufen, der CEO von Ringier habe sich öffentlich bei der Betroffenen entschuldigt. «Um schwere Persönlichkeitsverletzungen zu ahnden, ist die bisherige Praxis, eine Genugtuung einzufordern, aber völlig ausreichend.»
Masüger verfolgt den Prozess in Zug aufmerksam. Sollte Spiess-Hegglin vor Gericht obsiegen, befürchtet er, dass die Redaktionen eingeschüchtert würden und künftig vor wichtigen Recherchen zurückschrecken könnten. «Wenn ich mir vorstelle, dass ein durchgedrehter Gemeindepräsident den Redaktionen drohen könnte, sie auf Gewinnherausgabe zu verklagen, wenn sie kritisch über seine Amtsführung berichten, dann verhiesse das für die Pressefreiheit im Land nichts Gutes.»
Hansi Voigt widerspricht. Die Wiedergutmachungen, die heute in der Schweiz gesprochen würden, seien «lächerlich», gemessen an dem, was Opfer von Medienkampagnen durchmachten. «Da werden Existenzen zerstört.»
Die Berechnung sei zudem keineswegs so komplex wie von der Gegenseite behauptet. «Wir haben ja alle Daten: wie oft ein Artikel angeklickt wurde, wie viele Werbeeinblendungen es pro Artikelaufruf gab, was die entsprechenden Werbeplätze im Umfeld und auf der Seite kosteten.» Natürlich könne über die Gewichtung der einzelnen Parameter gestritten werden. «Nach unseren Berechnungen gehen wir jedoch davon aus, dass es auf einen tiefen sechsstelligen Betrag hinauslaufen muss – ohne allfällige Zinsen.»
Experte bemängelt «Scheingenauigkeit»
Urs Saxer ist Rechtsanwalt und Professor für Medienrecht. Die Grundidee, den Gewinn persönlichkeitsverletzender Artikel an die betroffene Person herauszugeben, findet er «einleuchtend», da dies den «elementaren Gerechtigkeitsvorstellungen» entspreche. Auch er hat jedoch grosse Vorbehalte gegenüber einer fixen Formel zur Berechnung des Gewinns, da das Gericht auf der Grundlage «von zahlreichen Hypothesen» urteilen müsse.
Diese Scheingenauigkeit im Verfahren ist aus seiner Sicht «zweifelhaft». So sei zum Beispiel nicht klar, was denn alles in Abzug gebracht werden könne, wenn es um die Errechnung des Gewinns gehe. «Nur der Lohn des Journalisten, sein Arbeitsplatz, die Reinigungskraft oder die Dividenden an die Aktionäre?», fragt Saxer.
Das Zuger Kantonsgericht hielt ebenfalls schon im ersten Urteil des mehrstufigen Prozesses fest, es sei schwierig, den Gewinn eines Medienhauses auf einen Artikel herunterzubrechen. Allerdings sei es gar nicht nötig, zu beweisen, dass ein Artikel kausal zu einem höheren Gewinn geführt habe. Nur schon das Erscheinen eines persönlichkeitsverletzenden Artikels reiche grundsätzlich aus, um eine Gewinnherausgabe fordern zu können.
Nachahmerklagen gegen Medienunternehmen?
Ringier befürchtet, dass die Gutheissung einer Gewinnherausgabe in der von Spiess-Hegglin geforderten Höhe «willkürlichen und exorbitanten Nachahmerklagen gegen Medienunternehmen und Medienschaffende Tür und Tor öffnen» könnte. Es ist also wahrscheinlich, dass Ringier das Urteil des Zuger Kantonsgerichts an die nächste Instanz weiterzieht, falls das Gericht zu seinen Ungunsten entscheidet.
Spiess-Hegglin auf der Gegenseite schrieb auf ihrer Website von einer «Kampagne» und «weit über 150 Artikeln», die Ringier über sie veröffentlicht habe. Es ist also ebenfalls nicht unwahrscheinlich, dass sie noch weitere Verfahren anstrengt, um den Gewinn herauszuverlangen, der mit der gesamten Berichterstattung gemacht wurde. Auch dazu wollte ihre Anwältin vor dem Gerichtstermin keine Stellung nehmen.
Nach der Hauptverhandlung vom Mittwoch wird das Gericht aufgrund der Eingaben und Plädoyers der beiden Parteien über das weitere Vorgehen entscheiden. Das Urteil erfolgt schriftlich zu einem späteren Zeitpunkt.
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