Seoane vor dem Länderspiel«Spaniens Potenzial ist riesig»
Gerardo Seoane ist YB-Meistertrainer und Schweizer. Er ist aber auch Spanier und spricht vor dem Nations-League-Spiel in Madrid über Enrique, Ramos und das Radiohören.
Wie gut ist diese spanische Mannschaft?
Sehr gut. Sie wird gegen die Schweiz nicht mit allen Kräften antreten, weil die letzte Saison so lang war und darum nicht alle Spieler berücksichtigt wurden. Trotzdem, da ist eine starke Mannschaft zusammen. Und was noch grösser ist als die aktuelle Qualität, das ist das Potenzial. Weil es viele junge Spieler gibt, die eine kleine Euphorie ausgelöst haben.
An wen denken Sie?
Ansu Fati, Ferran Torres, das sind 17-, 20-jährige Burschen, die ein Riesenpotenzial haben.
Wo kommen solche Spieler in Spanien immer wieder her?
Wenn man fünfmal mehr Einwohner hat als die Schweiz, dann ist auch klar, dass es viel mehr Qualität gibt. In der Schweiz müssen wir uns bei der Grösse des Landes mit unserer Nationalmannschaft überhaupt nicht verstecken. Was der grösste Unterschied ist: Spanien ist ein absolutes Fussballland.
Das heisst?
Fussball ist die Sportart Nummer 1, Nummer 2 und Nummer 3. Und dann kommen Basketball und Velo. Aber Fussball ist in aller Munde, in allen Altersklassen und Schichten. In der Schweiz haben wir eine ganz andere Vielschichtigkeit sportlicher oder kultureller Natur.
Wie sieht denn der fussballerische Alltag in Spanien aus?
Es gibt landesweit vier, fünf grosse Sportzeitungen. In jeder Stadt gibt es vier, fünf regionale Sportzeitungen. Für die Menschen in den Bars und Cafés gibt es zwei grosse Themen: Real Madrid gegen Barcelona und die Mannschaft aus ihrer eigenen Stadt. Darüber wird nonstop diskutiert.
Sie sind ja bekannt dafür, dass Sie den spanischen Fussball sehr genau verfolgen.
Auch das hat mit der spanischen Kultur zu tun. Die Taxichauffeure hören am Abend die Radiosender. Wie wir in der Schweiz am Sonntag das «Heimspiel» haben (auf Blue TV), gibt es das in Spanien landesweit jeden Abend auf zwei Sendern. Für mich ist das Unterhaltung, aber es gibt auch viel Kompetenz. Da reden Grössen wie Jorge Valdano oder Bernd Schuster. Ich finde es spannend, ihnen zuzuhören. Und es wird manchmal emotional, da fallen die Leute einander ins Wort und lassen einander nicht mehr ausreden. Wie das halt beim Spanier so ist (lacht).
Und dann hören Sie abends immer zu?
Diese Sendungen starten meistens nachts um halb zwölf oder zwölf Uhr. Ich höre sie mir als Podcast
am Morgen beim Autofahren an oder in einer freien Stunde.
Was wird aktuell über die Nationalmannschaft gesagt?
Das Sensationelle an der heutigen Medienzeit ist, dass du alles hören kannst. Die Pressekonferenz mit Nationaltrainer Luis Enrique nach dem Spiel gestern (dem 0:0 am Mittwoch gegen Portugal), die Spieler, die das erste Mal dabei waren … Jemand, der den Fussball liebt, kann heutzutage sehr nah dabei sein.
Lernen Sie auch etwas dabei?
Ja, natürlich. Luis Enrique ist ein Trainer, der sehr direkt kommuniziert, sehr offensiv, der sich auch traut, sich mit der Presse anzulegen. Für mich als Trainer ist das spannend zu verfolgen, wie er das macht, wie er zum Beispiel über Ansu Fati redet, wie er sich vor ihn stellt, wie er klarmacht, dass der junge Bursche nicht alles allein machen muss.
Was bringt Luis Enrique dieser Mannschaft?
Sie zeigt Qualitäten, die man mit ihm in Verbindung bringen muss. Die Spieler haben bei ihm einen wahnsinnigen Offensivdrang. Er vermittelt eine Geradlinigkeit: Wir wollen nach vorne spielen. Klar, sie verfallen manchmal ins Tiki-Taka, aber sein Ziel ist es, so viele Torchancen wie möglich zu kreieren. Sie spielen ohne Angst vor Fehlern, sie gehen ins Eins gegen Eins. Irgendwie schafft er es, ihnen Mut einzureden. Was er auch hat: eine grosse Persönlichkeit. Und was er macht: Er mischt unter 30, 35 Spielern alles wild durcheinander. In drei Spielen hat er, glaube ich, acht debütieren lassen.
Das heisst?
Die Spieler werden kreuz und quer durch ganz Spanien aufgeboten. Plötzlich ist Jesus Navas mit 34 dabei. Zwei von Villarreal sind dabei, die niemand auf der Liste hatte; Albiol ist einer von ihnen, der mit 36 plötzlich wieder ein Aufgebot erhielt. Von den grossen Vereinen, Barça und Real, sind nur einer oder zwei dabei. Luis Enrique zieht sein Ding einfach durch. Er scheut sich nicht, Jordi Alba (Barcelona) oder Dani Carvajal (Real) draussen zu lassen. So bringt er frisches Blut in die Nationalmannschaft. Das hat zur Folge, dass alle sehr motiviert sind und voller Energie.
Kommt seine Idee, alles durcheinanderzumischen, gut an im Land?
Das ist eine Debatte, die läuft: Müsste er nicht langsam anfangen, eine Mannschaft zu bauen, die an einer EM oder WM Titel gewinnt? Eine Hälfte denkt so, die andere anders.
Wie denken Sie?
Wenn man qualitativ so viele gute Spieler und eine solche Liga hat wie Spanien, kann man das so machen
wie Luis Enrique. Er ist ein Nationaltrainer, wie man ihn in den letzten 20 Jahren nicht kannte. Er ist wie ein Clubtrainer: Für jedes Aufgebot macht er ein paar Transfers. Wenn man wie in der Schweiz weniger Spieler zur Verfügung hat, muss man als Trainer schon schauen, dass eine Mannschaft zusammenwächst. Sie braucht eine Achse, einen Stamm, um am nächsten Turnier dabei zu sein. Das muss immer noch das oberste Ziel sein für die Schweiz.
Und für Spanien?
Bei einem Turnier gehört es immer zum Kreis der Favoriten.
«Sergio Ramos ist der absolute Boss, an ihm wird nicht gerüttelt.»
Hat Spanien das Potenzial, um wieder so gut und erfolgreich zu sein
wie zwischen 2008 und 2012 mit einem WM- und zwei EM-Titeln?
Nochmals, das Potenzial ist riesig. Es gibt auch viele, die im Ausland spielen. Ferran Torres bei Manchester City, Thiago bei Liverpool, und, und, und. Was Spanien im Moment aber fehlt, ist ein Neuner …
... ein Torjäger …
... ein Fernando Torres oder David Villa. Es fehlt ein klassischer Mittelstürmer. Die Frage wird sein: Wächst einer heran, der regelmässig Tore schiesst? Oder wird man immer mit vier, fünf Halb-Stürmern spielen müssen? Ich glaube, du brauchst einen richtigen Mittelstürmer, der Tore garantiert, damit du in einem Turnier ganz nach vorne kommst.
Das ist auch Ansu Fati nicht.
Nein. Spanien hat viele derartige Spieler, halbe Flügel, schnell, dribbelstark wie Rodrigo Moreno, Gerard Moreno, Dani Olmo, Ferran Torres. Jetzt ist Adama Traoré von Wolverhampton das erste Mal dabei gewesen. Aber keiner ist ein Goalgetter. Darum ist eines der heiss diskutierten Themen, gerade nach dem 0:0 gegen Portugal: Wer macht überhaupt Tore?
Was ist die Rolle von Sergio Ramos in dieser Mannschaft?
Er hat 173 Länderspiele. Stellen Sie sich das einmal vor! Er ist der absolute Boss, an ihm wird nicht gerüttelt. Er bestätigt jedes Mal mit Leistung, dass er berechtigterweise der Captain und Chef ist. Ich kann das nur erahnen, aber er ist sicher der verlängerte Arm des Trainers. Er ist sehr fordernd mit seinen Mitspielern, er geht immer vorneweg, er hat eine tolle Art, das zu kommunizieren. Aus dieser Mannschaft ist er nicht wegzudenken.
Sergio Ramos führt die Mannschaft aus der Abwehr heraus. Wer macht das im Mittelfeld?
Sergio Busquets ist noch dabei. Er hat in den letzten beiden Jahren aber Probleme gehabt.
«Ein Unentschieden liegt drin für die Schweiz, wenn sie den Anfangsdruck übersteht.»
Einen Xabi Alonso oder Xavi gibt es trotz allem Potenzial nicht?
Nein, der fehlt noch. Im Moment ist Sergio Ramos der grosse Anker in dieser Mannschaft.
Traut sich ein Trainer bei einem solchen Spieler überhaupt zu sagen,
er habe schlecht gespielt?
Sergio Ramos braucht das keiner zu sagen. Er kommt selbst und sagt: Trainer, sorry, heute habe ich einen schlechten Tag gehabt. Solche Spieler sind sehr selbstkritisch. Ein Trainer redet mit ihnen auf Augenhöhe. Nicht wie vom Mitarbeiter zum hohen Vorgesetzten. Das ist ohnehin der Weg, den die Trainer zu gehen versuchen: dass sie Nähe und Vertrauen zu den Spielern haben, dass es eine natürliche Autorität gibt, aber dass man miteinander extrem kommunikativ umgeht.
Was muss die Schweiz machen, um in Spanien bestehen zu können?
Wenn ich den letzten Match von Spanien nehme (gegen Portugal), muss sie die erste halbe Stunde überstehen. Da machten die Spanier unglaublich Dampf. Ich glaube, dass die Schweiz dazu fähig ist, wenn alle Spieler präsent sind. Sie hat gegen grosse Mannschaften gezeigt, dass sie Ballbesitz haben kann. Spanien praktiziert im Moment ein aggressives Gegenpressing. Schafft es die Schweiz also, ihr Spiel dem Gegner aufzuzwingen? Wenn den Spielern die Knie zittern, wird es schwierig. Sie müssen den Mut haben, den Ball haben zu wollen. Aber bei den Charakteren, die sie hat, habe ich keine Angst um sie.
Was tippen Sie?
Spanien nimmt den Match ernst. Es wird schwierig für die Schweiz. Aber ein Unentschieden liegt drin, wenn sie den Anfangsdruck übersteht. Und ich bin überzeugt, dass sie im November das Rückspiel daheim gewinnen kann.
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