Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Inklusive Bildung
«Einmal Sonderschule, immer Sonderschule»: Chefberater kritisiert Schweizer Schulsystem

Das Pestalozzihaus feiert die Einweihung des neuen Schulhauses und Therapiezentrums - Klassenzimmer.

Wurde früher bei einem Kind Trisomie 21 diagnostiziert, war der Fall klar: Es geht an die Sonderschule. Heute ist das anders. Seit 2011 verfolgt die Schweiz den Ansatz «Integration vor Separation». 

Das heisst: So weit wie möglich sollen Kinder mit Beeinträchtigung oder Behinderung in der Regelschule integriert werden. Trotzdem werden seit Jahren stets um die 18’000 Kinder und Jugendliche an Sonderschulen geschickt. Teils gegen den Willen ihrer Eltern (Lesen Sie hier, wie ein Vater nun erstmals vor die UNO zieht).

Ein Blick in die Statistik zeigt: Die Schweiz kommt mit der inklusiven Bildung nicht vom Fleck. Vor 40 Jahren besuchten 1,4 Prozent aller Schülerinnen und Schüler eine Sonderschule. Heute sind es 1,8 Prozent. «Ein erschreckendes Resultat, da wir in den letzten Jahrzehnten sehr viel Ressourcen in die Heilpädagogik investiert haben», sagt Romain Lanners.

Er ist Direktor des Schweizer Zentrums für Heil- und Sonderpädagogik, einer Fachagentur der kantonalen Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK). Sie berät die Kantone mit dem Wissen aus der Fachwelt. Nun übt Lanners scharfe Kritik – und zeigt auf, warum es nicht vorwärtsgeht.

Sonderschulen wollen aus- statt abbauen

Um den Charakter von Sonderschulen zu verstehen, muss man weit zurückblicken. Bis zu den 1960er-Jahren gab es kaum Bildungsangebote für Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigung oder Behinderung. Dann wurde die Invalidenversicherung erarbeitet. Sie finanzierte separative Sonderschulen, und zwar über private Stiftungen. Denn die Versicherungsgelder konnten nicht den Kantonen respektive Regelschulen überwiesen werden. Auch stützte die Forschung und Bildung damals das Modell Sonderschulen.

Inzwischen weiss man, dass Kinder mit Beeinträchtigungen und Behinderungen an Regelschulen bessere Lernerfolge haben. Und dass die schulische die soziale Integration fördert. Nur blieben die beiden Schulsysteme dieselben, kritisiert Lanners: «Ich beobachte leider häufig, dass die Sonderschulen die Separation regelrecht betonieren.»

Denn sie sind privatrechtlich organisiert, was Lanners «sehr problematisch» findet. Denn: «Sie haben kein Interesse daran, abzubauen. Im Gegenteil: Sie bauen aus.» Und das Angebot fördere die Nachfrage.

Romain Lanners, Direktor des Schweizer Zentrums für Heil- und Sonderpädagogik, übt Kritik am Sonderschulsystem.

Lanners macht ein Beispiel: «Die Waadt hat vor Jahren entschieden, die Plätze in Sonderschulen nicht weiter auszubauen. Trotz steigender Schülerzahlen, also a priori steigender Bedürfnisse, besuchen heute proportional gesehen weniger Lernende eine Sonderschule.» Im Kanton Neuenburg hingegen sei es umgekehrt: Die Schülerzahlen sinken, «aber eine grosse und mächtige neuenburgische Stiftung baut ihr Angebot an Sonderschulplätzen stetig aus, und immer mehr Lernende werden dort in Sonderschulen beschult».

Es gibt grosse Unterschiede in den Kantonen. Die aktuellen Zahlen stammen aus dem Schuljahr 2020/2021. Während in Baselland 7,1 Prozent der Schülerinnen und Schüler in eine Sonderschule gehen, sind es in Uri, Nid- und Obwalden gerade einmal 0,8 Prozent. Das liegt vor allem daran, dass es in ländlichen Regionen viel weniger Sonderschulangebote gibt als in städtischen Agglomerationen.

Angesprochen auf Lanners Kritik, heisst es beim Neuenburger Bildungsdepartement, man müsse auch beachten, dass die Schwierigkeiten der Kinder komplexer geworden seien. Etwa durch mehr diagnostizierte Störungen, Frühgeburten oder übermässige Bildschirmzeit. Aber man sei sich der Problematik bewusst und habe eine Bestandesaufnahme durchgeführt, um «Massnahmen zur Verringerung der Trennungsraten zu ergreifen».

Ressourcen verschieben

Lanners betont, dass er nicht die Arbeit der Sonderschulen kritisiere. «Sie machen gute Arbeit, haben das fachliche Wissen und die materiellen Ressourcen.» Er glaubt vielmehr, das Problem liegt im System. «Sonderschulen brauchen Geld, um zu überleben.» Daher würden sie auch nicht gerne Kinder an die Regelschulen verlieren. 

Und: «Die Sonderschulen sprechen eine andere Sprache als die Regelschule. Dies erschwert eine Rückkehr in eine Regelschule.» Die Analyse der Bildungsverläufe zeige, dass es sehr wenig Reintegrationen aus Sonderschulen in Regelschulen gebe. «Einmal Sonderschule, immer Sonderschule», sagt Lanners.

Der Experte sagt auch, es sei ausgesprochen teuer, beide Systeme (Sonder- und Regelschule) zu erhalten. «Heute werden viele Lernende mit besonderem Bildungsbedarf über weite Strecken vom Wohnort zu Sonderschulen transportiert. Diese oft langen Fahrten sind nicht nur teuer, sondern verbraten auch wichtige Bildungszeit in Taxis und Kleinbussen.»

Sein Lösungsansatz: ein Transfer der personellen, fachlichen und materiellen Ressourcen von den Sonderschulen hin zu den Regelschulen. «Aber keine Abschaffung der Sonderschulen», so Lanners. Denn separative Angebote seien zum Beispiel für Lernende mit komplexen Beeinträchtigungen sinnvoll. Wenn etwa ein Kind neben einer kognitiven Beeinträchtigung auch pflegebedürftig sei.

Oetwil am See, Schule Breitenacher, Integration von Sonderschülern, bei Sonderpädagogin Susi Wyss dürfen die 1. Klässler das Verdoppeln von Zahlen mit Hilfe der Klötzli lernen, 12.12.12, Foto: Manuela Matt

Mehr Ressourcen an der Regelschule hält auch die oberste Lehrerin der Schweiz, Dagmar Rösler, für sinnvoll. Etwa, indem immer zwei Lehrpersonen eine Klasse betreuen. Zudem werden Lehrpersonen wegen einer Änderung des Anerkennungsreglements gezielter dafür ausgebildet, Kinder mit besonderem Bildungsbedarf auszubilden. Das begrüsst Rösler, mahnt aber, dass gesellschaftliche Probleme häufig an Schulen abdelegiert würden: «Man kann in der Ausbildung nicht unbegrenzt neue Inhalte einfüllen, ohne dabei nicht auch einmal über den nötigen Umfang der Lehrer- und Lehrerinnenausbildung zu diskutieren.»

Sonderschulen werde es immer brauchen, sagt Rösler. «Nicht im Sinne von «Abschieben», wie es oft verstanden wird, sondern im Sinne von Unterstützung der betroffenen Schülerinnen und Schülern sowie der Regelschule.»