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Ukraine-Russland-Konflikt
So wurde aus Russlands Armee eine gefährliche Streitmacht

Die Armee hat ältere Panzer und Jets «aufgewertet»: Russische Panzer auf einer Autobahn in der Krim am 18. Januar 2022. 
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Wladimir Putin konnte sich im Herbst persönlich einen Eindruck von der Schlagkraft seiner Truppen machen. Während der mehrtägigen Grossübung Sapad (Westen) schaute er russischen Streitkräften einen Nachmittag lang dabei zu, wie sie den angreifenden Feind in einen Feuerkessel lockten und zurückschlugen.

Auf dem Übungsplatz bei Mulino bot das Verteidigungsministerium alles auf, was es zu bieten hatte, darunter Raketenwerfer, Panzerartillerie, auch der neue unbemannte Panzer Uran-9 schoss aus allen Rohren. Mehr als 60 Flugzeuge unterstützten die Artillerie, von tieffliegenden Su-25, Bodenkampfflugzeugen, bis zu schweren Tupolew-Bombern. Eine Hubschrauberflotte brachte kleinere Militärfahrzeuge ins Feld, sie hingen wie Spielzeugwagen in der Luft. Gegen Ende zündeten irgendwo in der Ferne zwei Iskander-Raketen.

Nicht nur Russlands Militärübungen sind über die Jahre immer grösser und komplexer geworden. Sapad 2021 habe gezeigt, schrieb der US-Militärexperte Michael Kofman in einer Analyse, dass die Jahre der Modernisierung «das russische Militär zu einer glaubwürdigen Streitmacht mit erhöhter Einsatzbereitschaft und Mobilität» gemacht haben.

Was hat er mit seiner Streitmacht vor? Wladimir Putin an der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele in Peking.

Nur wenige Monate später zeigte sie das auch ausserhalb des Übungsplatzes: Das russische Verteidigungsministerium verlegte grosse Teile seiner Armee in die Nähe der ukrainischen Grenze. Kofman war einer von denen, die früh vor einer möglichen Eskalation warnten. «Ein grosser Krieg in Europa in den kommenden Wochen ist wahrscheinlich», schrieb er Ende Januar in einem Artikel über Putins mögliche Strategie. Videos im Internet machen seit Monaten für alle sichtbar, wie russische Züge Panzer Richtung Westen transportieren.

Trotzdem bleibt Moskau laut Kofman noch genug Spielraum für einen Überraschungsangriff. Es sammle seine Streitkräfte «auf eine Weise, die darauf ausgelegt ist, seine operativen Ziele zu verbergen», schreibt er. Die Armee positioniere ihre Truppen langsam und gezielt, die Ausrüstung könne monatelang auf dem Feld geparkt werden. Mit anderen Worten: Ob und wann Panzer in welcher Stärke von wo aufbrechen, ist unklar.

Die Armee als aussenpolitisches Mittel

Als sicher gilt, dass die russische der ukrainischen Armee deutlich überlegen ist. Moskau kann nach Zahlen des International Institute for Strategic Studies (IISS) in London auf etwa 900’000 Soldaten und mehr als 2800 Kampfpanzer zurückgreifen. Die ukrainische Armee kommt wohl nur auf etwa ein Drittel davon.

Es ist eine Streitmacht, die Putin immer öfter als aussenpolitisches Mittel einsetzt, über deren Stärke er gern spricht. Unvergessen ist seine Rede an die Nation im Jahr 2018, die zur Waffenschau geriet: Putin zeigte animierte Videos von neuen Nuklearwaffen, Interkontinentalraketen und solche, die mit Überschallgeschwindigkeit fliegen können. Der Präsident stellte sie als Reaktion auf die Aufrüstung des Westens dar. «Niemand wollte uns zuhören», sagte er. «Hört uns jetzt zu!»

Russland hat seine Militärausgaben stetig erhöht, auf 4,2 Billionen Rubel im Jahr 2019, hat das internationale Friedensforschungsinstitut Sipri in Stockholm errechnet. Damals waren das umgerechnet mehr als 65 Milliarden Dollar und 3,9 Prozent des russischen Bruttoinlandsproduktes. Seit mehr als zehn Jahren hat Russland einen festen Platz unter den fünf grössten Waffeneinkäufern der Welt.

Diese Zahlen allein verführen jedoch dazu, Russlands militärische Stärke zu überschätzen. Als Putin im Jahr 2000 Präsident wurde, war die Armee in einem beklagenswerten Zustand, viele Stützpunkte verlassen, die Ausrüstung veraltet, die Soldaten wurden schlecht bezahlt. Noch im selben Jahr sank das Atom-U-Boot Kursk nach einer Explosion an Bord, 118 Seeleute starben. Putin traf sich mit den Angehörigen, der Kommersant veröffentlichte später ein Redeprotokoll. «Sie wissen, dass sich unser Staat und unsere Armee in einer schwierigen Situation befindet», sagt der Präsident. «Wir brauchen eine kleinere Armee, besser ausgerüstet, technisch perfekt.»

Raketenwerfer feuern bei Übungen der russischen und weissrussischen Armeen: Videoaufnahme veröffentlicht durch das russische Verteidigungsministerium am 4. Februar 2022.  

Es dauerte Jahre, bis die grosse Reform begann. Ausschlaggebend war damals der Georgienkrieg 2008, in dem die russische Armee alles andere als «technisch perfekt» auftrat. Soldaten nutzten ihre privaten Handys, weil ihr Funk nicht funktionierte. Berichten zufolge stahlen sie Helme von georgischen Soldaten, um besser geschützt zu sein. Noch im selben Jahr setzte sich das russische Verteidigungsministerium das Ziel, 70 Prozent der militärischen Ausrüstung bis 2020 zu modernisieren.

Kern der Reform war dabei nicht nur, neue Waffen zu entwickeln. Für einen grossen Teil des Geldes hat Moskau vorhandene Ausrüstung aufgemöbelt, weil Entwicklung und Produktion neuer Waffen stockten. Sipri gibt ein Beispiel: Bis 2020 sollten die Streitkräfte eigentlich 2300 neue Armata-Kampfpanzer und mindestens 55 neue Su-57 Mehrzweckkampfflieger bekommen, Waffen einer neuen Generation. Bis 2019 waren laut Sipri allerdings nur wenige Prototypen fertig, und diese noch nicht im Einsatz. Stattdessen hatte die Armee ältere Panzer und Jets «aufgewertet», ältere Waffentypen neu produziert.

Auf den Satellitenbildern sind noch keine Unterkünfte für Soldaten zu sehen: Russische Kampftruppen stationiert bei einer Trainingsstation im Westen von Russland am 26. Januar 2022. . 

Die zweite grosse Veränderung betrifft das Personal: Zwei Drittel sind heute besser bezahlte und ausgebildete Berufs- und Zeitsoldaten, nur ein Drittel sind Wehrpflichtige. Zudem hat die russische Armee seit 2008 Kampferfahrung gesammelt, vor allem gilt das für die Luftwaffe und ihren Einsatz in Syrien. 92 Prozent der Piloten seien kampferprobt, sagte Verteidigungsminister Sergei Schoigu Ende Dezember, dasselbe gelte für knapp zwei Drittel der Marine.

Dass russische Schiffe Ziele in Syrien vom Kaspischen Meer aus beschiessen könnten, hatten Militärbeobachter zuvor für undenkbar gehalten. Kürzlich hat Schoigu wieder bewiesen, wie schnell und effektiv seine Truppe sein kann: Im Januar schickte er kurzerhand Fallschirmjäger nach Kasachstan, nachdem der kasachische Machthaber Moskau um Hilfe dabei gebeten hatte, Proteste im Land zu bekämpfen. Ebenso schnell waren russische Friedenstruppen 2020 in der Konfliktregion Bergkarabach.

Doch was nun im Westen Russlands passiert, scheint die bisher ambitionierteste Operation der russischen Streitkräfte zu sein. Bereitet Putin einen neuen Krieg vor?

Seine Armee hat Panzer und andere Fahrzeuge im Norden, Osten und Westen vor der ukrainischen Grenze geparkt, bisher sind auf den Satellitenbildern aber noch keine Unterkünfte für Soldaten zu sehen. Beobachter wie Kofman warnen vor ersten Anzeichen dafür, dass Moskau nun auch das notwendige Personal Richtung Grenze schicken könnte.