Gegenvorschlag zur InklusionsinitiativeDer Bundesrat will eine barrierefreie Gesellschaft. Was das für Betroffene und Firmen bedeutet
Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider will auf Druck einer Initiative die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen vorantreiben. Wir zeigen, was der Vorschlag beinhaltet.
- Die Inklusionsinitiative will rechtliche Gleichstellung für Menschen mit Behinderungen erreichen.
- Der Bundesrat bietet einen Gegenvorschlag mit Fokus auf Wohnen und Assistenz an.
- Menschen mit Behinderung sollen moderne technische Hilfsmittel über die IV erhalten.
- Arbeitgeber müssen auf Verlangen barrierefreie Arbeitsplätze bereitstellen.
Was will die Inklusionsinitiative?
Die Initiative wurde am 5. September 2024 mit 108’000 gültigen Unterschriften eingereicht und verlangt die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen. Sie fordert zudem das Recht auf die freie Wahl der Wohnform und des Wohnorts.
Warum will der Bundesrat einen indirekten Gegenvorschlag?
Nach Ansicht des Bundesrats führt die Inklusionsinitiative zu keinen direkten Verbesserungen für die betroffenen Menschen. Der Initiativtext lasse einen grossen Interpretationsspielraum offen, was zu Rechtsunsicherheit führe, sagte Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider vor den Medien. Die Initianten machten zwar einige konkretere Vorgaben als die heutige Verfassung. Diese enthalte aber bereits den Auftrag, Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen zu beseitigen. Deshalb könnten die Anliegen per Gesetz realisiert werden.
Wie sieht der Gegenvorschlag aus?
Der Bundesrat stellt der Initiative einen indirekten Gegenvorschlag auf Gesetzesebene gegenüber. Dieser besteht aus zwei Teilen: einem Inklusionsrahmengesetz mit Fokus auf den Bereich Wohnen und eine IV-Teilrevision mit Anpassungen in den Bereichen Hilfsmittel und Assistenzbeitrag.
Das Inklusionsrahmengesetz soll Menschen mit Behinderungen die «grösstmögliche Wahlfreiheit» bei der Wohnform geben. Die Kantone müssen ein vielfältiges Angebot an Unterstützung bieten, die dem individuellen Bedarf der Betroffenen entspricht. Zudem sollen sie den Zugang zu preisgünstigen und hindernisfreien Wohnungen fördern und die Betroffenen bei der Wahl ihrer Wohn- und Lebensform beraten.
Welche Verbesserungen gibt es bei der Invalidenversicherung?
Menschen mit Behinderungen soll künftig eine breitere Palette von modernen technischen Hilfsmitteln geboten werden, die eine selbstständige Lebensführung ermöglichen. Dazu gehören beispielsweise Hörgeräte oder Prothesen, die von der Invalidenversicherung vergütet werden. Insbesondere sollen die Betroffenen vom technischen Fortschritt profitieren, zum Beispiel von elektronischen Kniegelenken oder Armprothesen, die über elektrische Impulse der Muskeln funktionieren.
Weiter soll der bereits existierende Assistenzbeitrag ausgebaut werden. Dieser ermöglicht die Anstellung einer Person, damit Menschen mit Behinderung zu Hause statt in einem Heim leben können. Heute können nur Bezügerinnen und Bezüger einer Hilflosenentschädigung einen Assistenzbeitrag beantragen. Dies soll nun auch Personen mit eingeschränkter Handlungsfähigkeit möglich sein. Dabei handelt es sich beispielsweise um Menschen mit einer geistigen Behinderung oder mit psychischen Störungen, die auf Unterstützung angewiesen sind.
Wie soll die Integration am Arbeitsplatz gefördert werden?
Heute sind Menschen mit Behinderungen nur in Arbeitsverhältnissen nach dem Bundespersonalgesetz vor Benachteiligungen geschützt. Das Diskriminierungsverbot soll nun für alle öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Arbeitsverhältnisse gelten. Die Arbeitgeber müssten künftig auf Verlangen den Arbeitsplatz barrierefrei gestalten. Die Vorgaben gelten auch für Bewerbungsgespräche. Diese sollen etwa online ermöglicht werden. Hörbehinderten sollen die Fragen im Bewerbungsgespräch kurz vorher schriftlich abgegeben werden.
Generell gilt jedoch immer, dass die Massnahmen für den Arbeitgeber tragbar sein müssen. Die entsprechenden Vorgaben sind in der Reform des Behinderungsgleichstellungsgesetzes vorgesehen. Diese Reform hat der Bundesrat bereits unabhängig von der Initiative eingeleitet. Sie wird nun Teil des indirekten Gegenvorschlags.
Was gilt für Kinos oder Restaurants?
Das Diskriminierungsverbot im Behinderungsgleichstellungsgesetz wird auch auf private Anbieter kommerzieller und kultureller Dienstleistungen ausgeweitet. Kinos, Theater, Restaurants, Hotels, Sportstadien, Läden oder Internetseiten müssen barrierefrei sein. Auch hier gilt allerdings, dass die Massnahmen für die Dienstleister tragbar sein müssen.
Wann muss der ÖV hindernisfrei sein?
Gemäss dem geltenden Gesetz hätte die volle Barrierefreiheit für den öffentlichen Verkehr bis Ende 2023 realisiert werden sollen. Diese Frist wurde jedoch verpasst. Viele Bahnhöfe sowie Bus- und Tramhaltestellen sind für Menschen mit Behinderungen noch immer nicht autonom nutzbar. Der Bundesrat verzichtet aber darauf, den ÖV-Unternehmen, Kantonen und Gemeinden eine neue Frist zu setzen, da die Umsetzung im Gange sei.
Genügt der Gegenvorschlag den Initianten?
Ob die Initiative zurückgezogen wird, hängt vor allem vom Schlussresultat der parlamentarischen Beratungen ab. «Der Gegenvorschlag ist für Menschen mit Behinderungen ein Erfolg», sagt der Zürcher SP-Nationalrat Islam Alijaj. Für ihn hängt ein allfälliger Rückzug der Inklusionsinitiative von der konkreten Ausgestaltung und der Finanzierung des Assistenzbeitrags ab. Zudem müssten bei der weiteren Entwicklung des Inklusionsgesetzes Menschen mit Behinderungen auf Augenhöhe eingebunden und beteiligt werden. Für Mitte-Nationalrat Christian Lohr ist der Gegenvorschlag eine gute Basis, um die Anliegen der Initiative umzusetzen. Lohr wünscht sich vom Gesamtbundesrat aber «ein klareres Bekenntnis zu einer inklusiven Gesellschaft und eine Haltung, die den Willen zur Umsetzung glaubwürdig macht».
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