Repression in RusslandSo drangsaliert der Kreml die freie Presse
Unabhängige Medien werden zu «ausländischen Agenten» erklärt, bereits Studenten drohen Haftstrafen.
Es sind schwierige Tage für Iwan Kolpakow, Tage, in denen er immer wieder denkt: «Es ist vorbei.» Vorbei mit seinem Onlinemagazin «Meduza», einem der wenigen unabhängigen russischen Medien, die es noch gibt. Natürlich wussten er und sein Team, dass es sie irgendwann treffen könnte, nun wurde «Meduza» tatsächlich zum «ausländischen Agenten» erklärt. Das Magazin hat seinen Sitz in Lettland, wurde aber von russischen Journalisten gegründet und veröffentlicht in russischer Sprache. Etwa die Hälfte der 60 Mitarbeiter arbeiten von Russland aus.
Es sei alles noch «viel härter, als wir erwartet haben», sagt der Chefredaktor. Über jedem Artikel müssen sie nun in grosser Schrift auf das Agenten-Label hinweisen. Kolpakow erwartet, dass praktisch kein russisches Unternehmen mehr Anzeigen daneben schalten möchte. «Wir verlieren Werbekunden in diesem Moment», sagt er während des Skype-Interviews. «Die Entscheidung des Justizministeriums tötet unser Geschäft.»
Das zweite Problem sind die Quellen, vor allem in Behördenkreisen. Wer möchte schon mit einem Auslandsagenten reden? Drittens kann nun jeder Mitarbeiter von «Meduza» persönlich zum Agenten erklärt werden, was kaum erfüllbare Auflagen bei drohenden Strafen mit sich brächte. «Das ist eine sehr brutale Taktik», sagt Kolpakow.
Es ist die Taktik eines Machtapparats, der sich durch Gesetzesänderungen immer mehr Instrumente geschaffen hat, um Kritiker, Aktivisten, Oppositionelle, praktisch jeden Bürger vor Gericht stellen und notfalls einsperren zu können. Neu ist, dass er diese Instrumente offener und rücksichtsloser anwendet als je zuvor. Eines der grössten unabhängigen Medien wird zum Agenten erklärt. Gleichzeitig soll das grösste oppositionelle Netzwerk – das von Alexei Nawalny – als «extremistisch» eingestuft werden.
Reporter werden festgenommen
Journalisten riskieren in Russland seit Jahren ihre Freiheit, ihre Gesundheit und ihr Einkommen. Allein 2020 zählte die Organisation Glasnost Defense Foundation 1934 Vorfälle, Festnahmen, Gerichtsverfahren, Zensurversuche, Überfälle auf Journalisten. Die Restriktionen nehmen zu: Wer etwa über Proteste berichten will, muss eine neongrüne Weste, einen Redaktionsbrief in der Tasche und einen nach strengen Vorgaben gefertigten Ausweis um den Hals tragen – und wird manchmal trotzdem festgenommen. Als Zehntausende Russen Ende April auf die Strasse gingen, um einen Arzt für Nawalny zu fordern, klopfte in den Tagen danach die Polizei bei zahlreichen Reportern an die Tür. Angeblich hatten sie die Regeln verletzt.
Galina Arapowa ist Direktorin des russischen Mass Media Defence Centre, das auch als Auslandsagent registriert ist und Medien berät. «Wir dachten, wir hätten den Tiefpunkt erreicht, aber dann hörten wir jemanden von unten klopfen», zitierte sie nach der «Meduza»-Entscheidung ein russisches Sprichwort. Die Lage sei «extrem schlecht» – aber vielleicht sei das noch nicht das Ende.
Der «extremistische» Nawalny
Die radikalsten Massnahmen richten sich derzeit gegen die Organisationen von Alexei Nawalny: gegen seine Stäbe, die mit Ortsgruppen von Parteien vergleichbar sind, und gegen seine Stiftung, die über Korruption berichtet. Beide sollen als «extremistisch» eingestuft werden, bis zum Gerichtsurteil hat die Staatsanwaltschaft ihnen Arbeitsverbot erteilt.
Bereits vergangenen Donnerstag hat Nawalnys Stabschef Leonid Wolkow die regionalen Gruppen aufgelöst, um deren Mitarbeiter zu schützen. Jeder, der eine als extremistisch eingestufte Organisation unterstützt, kann bestraft werden, womöglich mit Gefängnis. «Es ist unmöglich, unter diesen Bedingungen zu arbeiten», sagt Wolkow.
Die Verfolgungswelle zieht immer weitere Kreise. Mitte April durchsuchte die Polizei die Redaktionsräume des Studentenmagazins«Doxa» und Wohnungen von vier Journalisten. «Doxa» berichtet auch über Repressionen an Universitäten, etwa wenn Studierenden vor Protesten mit Exmatrikulation gedroht wird. Im Januar erklärten die Redaktoren in einem Video, dass sich Studenten nicht einschüchtern lassen sollten. Den vier Redaktoren wird nun vorgeworfen, Minderjährige zu «illegalen Aktionen» aufgerufen zu haben. Sie stehen unter Hausarrest, dürfen nur zwei Stunden täglich raus, das Internet nicht benutzen. Ihnen drohen schlimmstenfalls bis zu drei Jahre Haft.
Angeblich vom Ausland gesteuert
Anwalt Leonid Solowjow vertritt einen der vier Redaktoren. Er hat früher selbst im Ermittlungsbüro gearbeitet, dann aus Überzeugung die Seiten gewechselt. Es sei neu, sagt er, dass ganze Berufsstände wie Journalisten oder Gesellschaftsgruppen wie Studenten verfolgt würden. Er erklärt sich das damit, dass «die Suche nach inneren Feinden eine Ideologie ersetzen muss». Die Behörden müssten den Schein aufrechterhalten, gegen diese Feinde zu kämpfen.
«Meduza»-Chefredaktor Kolpakow sagt, die russischen Behörden glaubten nicht, dass unabhängiger Journalismus existiere. «Sie haben dieses Bild von der Welt, dass jeder von irgendwem bezahlt ist und daher an einem politischen Prozess teilnimmt.» Womöglich sind «Meduza» die diplomatischen Verwerfungen zwischen Riga und Moskau zum Verhängnis geworden. In Lettland wurde der russische Staatssender RT blockiert, dem Riga nicht zu Unrecht Propaganda vorwirft. Anders als RT ist «Meduza» privat finanziert und unabhängig.
Dem Kreml ist Journalismus egal
«Ein starkes, faires, unabhängiges Medium ist heute praktisch unmöglich in Russland», sagt Kolpakow. Er und sein Team haben ihre Optionen diskutiert, Sparpläne aufgestellt, Gehälter gekürzt. Am Tag nach dem Interview starten sie einen Spendenaufruf. Während Kolpakow noch spricht, meldet «Meduza», dass sich Kremlsprecher Dmitri Peskow geäussert hat. Peskow sagt, heutzutage würde man «das Verschwinden eines Mediums nicht stark spüren». Iwan Kolpakow übersetzt das mit: «Es ist uns egal.»
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