Angriff auf AKW in der UkraineSie wollen neue Kernkraftwerke – Krieg hin oder her
Die Beschädigung der grössten Anlage Europas schürt die Angst vor einem GAU. Die Nuklearbefürworter in der Schweiz halten dennoch an ihrer Volksinitiative fest.
Sie träumen von neuen Kernkraftwerken in der Schweiz. Und bald schon beginnen SVP-Politikerin Vanessa Meury, Präsidentin des Energie-Clubs Schweiz, und ihre Mitstreiter, Unterschriften für die Volksinitiative «Stopp dem Blackout» zu sammeln. Das Volksbegehren, welches das Neubauverbot für Kernkraftwerke in der Schweiz aufheben will, liegt derzeit bei der Bundeskanzlei. «Sobald alle Prüfungen und Übersetzungen durch sind, starten wir», bestätigt Mirko Gentina, Geschäftsführer des Energie-Clubs Schweiz.
So weit alles nach Drehbuch. Eine andere Frage ist, inwieweit der Krieg in der Ukraine den Initianten das Leben schwermachen könnte, namentlich die Entwicklungen rund um Saporischschja. Letzte Woche haben russische Streitkräfte Europas grösstes Atomkraftwerk im Südosten der Ukraine angegriffen. Ein Verwaltungsgebäude der Anlage stand danach in Flammen, erhöhte Radioaktivität wurde nicht gemessen. Mittlerweile steht die Werksleitung unter dem Befehl eines Kommandeurs der russischen Streitkräfte. Weiter ist offenbar eine nukleare Forschungseinrichtung in der Ukraine zerstört worden, wie die Atomenergiebehörde (IAEA) am Montag mitgeteilt hat. Auch hier sei keine Strahlung ausgetreten.
«Das Vorgehen Russlands in der Ukraine ist unverantwortlich und aufs Schärfste zu verurteilen», sagt Meury. «Trotzdem sehen wir keinen Grund zur Beunruhigung.» Die sechs Reaktoren in Saporischschja seien sehr robust gebaut, es brauche spezielle Munition, um das meterdicke Containment und das stählerne Druckgefäss zu durchschlagen. Russland, so Meury, wisse um die jahrzehntelang geschürte Angst vor Kernenergie im deutschsprachigen Europa. «Das Beschiessen geschieht also möglicherweise mit Kalkül.»
Die Atomdebatte – sie wird gerade unter neuen Vorzeichen geführt. Wieder einmal. Nach Fukushima 2011 standen während Jahren Sicherheitsfragen im Vordergrund. Zuletzt aber haben zwei andere Faktoren dominiert: die Sorge um das Klima und die Stromversorgung. In beiden Fällen haben nuklearfreundliche Kreise Kernkraftwerke als die Lösung präsentiert. Seit der Bund im letzten Herbst eine Studie zu möglichen Strommangellagen ab 2025 präsentiert hat, wähnen sie sich erst recht im Aufwind. Auch politisch konnten sie Gewinne verbuchen: Die FDP hat eine Kursänderung beschlossen und will nun, wie die SVP, das Neubauverbot für Kernkraftwerke aufheben.
Nun aber könnte wegen des Ukraine-Kriegs das Momentum wieder ändern. «Der Beschuss durch die russische Armee zeigt, wie nahe wir an einer Katastrophe sind», sagt Jacques Schiltknecht, Vorstandsmitglied der Organisation Ärztinnen und Ärzte für soziale Verantwortung und zur Verhütung eines Atomkrieges. Hoffen lässt nach Meinung Schiltknechts nur etwas: Auch russische Territorien und die annektierte Krim wären von einem Grossunfall betroffen. Russland könnte also «wenigstens aus Kalkül» vor weiteren solchen Aktionen absehen. «Zynischerweise, zum Glück für uns, würde nämlich ein Kriegsziel, die Einnahme der Kornkammer Ukraine, bei einer radioaktiver Verseuchung hinfällig.»
Auch Staudämme können zur Gefahr werden
Die Kernkraft-Befürworter bestreiten diese Gefahr nicht. «Leider besteht bei kriegerischen Handlungen immer die Gefahr, dass auch kritische Infrastrukturen angegriffen werden, was dann zu erheblichen Schäden in den betroffenen Ländern führen kann», sagt Hans-Ulrich Bigler, Präsident des Nuklearforums Schweiz. Dazu würden auch Kernkraftwerke zählen, aber nicht nur. Bigler spielt auf andere Infrastrukturen an, deren Zerstörung ebenfalls drastische Folgen haben könnte, etwa Staudämme. Bräche etwa die Staumauer Grande Dixence, würde eine Flutwelle das Unterwallis samt Sion verwüsten. Letztlich, so Bigler, gehe es um eine Abwägung von Nutzen und Risiken.
Eine solche Abwägung nimmt derzeit Deutschland vor. Eigentlich sollten dieses Jahr die letzten drei Kernkraftwerke vom Netz gehen. Da aber Deutschland stark von russischem Gas abhängig ist und als Folge des Kriegs das Risiko einer Gasknappheit steigt, ist der Ruf nach einer möglichen Laufzeitverlängerung der Meiler laut geworden. Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck lässt diese Option nun prüfen. Es gebe keine «Denktabus», sagte er, machte aber gleichzeitig klar, dass die Atomkraft für den nächsten Winter keine Hilfe sei. Der Grund: Die Vorbereitungen für die Abschaltungen sind schon so weit fortgeschritten, dass die drei Anlagen «nur unter höchsten Sicherheitsbedenken und möglicherweise mit noch nicht gesicherten Brennstoffzulieferungen» weiterbetrieben werden könnten.
Fragen im Parlament
Derweil wollen die Kernkraft-Befürworter den Fokus der Debatte von der wieder aufgekommenen Sicherheitsfrage wegrücken. Meury vom Energie-Club Schweiz findet, man müsse nun über die Finanzierung des Kriegs sprechen. Sie erfolge praktisch vollumfänglich über fossile Energieträger, die vor allem Deutschland benötige, weil die wetterabhängigen neuen erneuerbaren Energien wie Sonne und Wind ohne Back-up-Kapazität nicht auskämen. Die Abhängigkeit sei so gross, dass man auch jetzt nicht auf diese Energieträger aus Russland verzichten könne und so den Krieg gegen die Ukraine und das System Putin wesentlich mitfinanziere. «Wir müssten eigentlich darüber diskutieren, wie man diese Abhängigkeit verringern kann.» Und dazu gehöre auch Technologieoffenheit gegenüber der Kernenergie.
Nationalrat Bastien Girod (Grüne) sieht das anders. Für ihn zeigt der Krieg nicht nur die «Absurdität», mit fossilen Energien wie Gas die Versorgungssicherheit stärken zu wollen. Denselben Schluss zieht er auch für Kernkraftwerke, weil hier eine Abhängigkeit von russischem Uran bestehe. In der Tat beziehen die Kernkraftwerke Leibstadt und Beznau Uran aus Russland, sie prüfen derzeit aber, ob Anpassungen bei den Lieferanten nötig sind.
Das Ringen um die Deutungshoheit: Es ist in vollem Gang. Auch im Parlament ist das Thema am Montag aufs Tapet gekommen. Nationalrätin Martina Munz (SP) wollte in der Fragestunde vom Bundesrat wissen, wie die «nuklearen Hotspots» in der Schweiz besser vor physischen Bedrohungen und Cyberangriffen geschützt werden können. Die Antwort des Bundeserats: Die Betreiber der Anlagen müssten Risikoanalysen durchführen und, sofern nötig, Schutzmassnahmen umsetzen. Zuständig für die Aufsicht der Kernanlagen sei das Ensi. Die Atomaufsicht verfolge die Entwicklungen aufmerksam.
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