Wasserspringerin Michelle HeimbergSie wählte ihren Sport mit der Mutter im Internet aus
Kunstturnerin Michelle Heimberg wurde mit 12 die baldige Invalidität prophezeit. Heute ist die Aargauerin Wasserspringerin mit Final-Ambitionen bei Olympia.
Die Diagnose ist ein Schock: die linke Kniescheibe gebrochen, kurz darauf auch die rechte. Sie könne ihren Sport schon weiter ausüben, sagt der Doktor. Warnt aber im selben Atemzug: «Dann riskierst du, dass du künstliche Kniegelenke benötigst, bevor du 18 bist.» Das Mädchen, das ihm gegenübersitzt, ist damals 12.
Ihr Name: Michelle Luisa Heimberg. Ihre Leidenschaft: das Kunstturnen. Seit sie bei den Olympischen Spielen von Athen die Amerikanerinnen gesehen hat, ist das so. Auch sie will einmal ihr Land beim grössten Sportanlass vertreten, und diese Faszination für die fünf Ringe ist bis heute geblieben: «Mich reizt es, am Tag X die beste Leistung meines ganzen Lebens abzurufen.»
Michelle Heimberg will die Diagnose nicht wahrhaben, für sie ist klar: «Ich mache weiter.» Sie lässt sich schliesslich aber von den Eltern umstimmen. Und beginnt mit der Suche nach einer Alternative, schon damals zeichnet sie der Durchhaltewille aus.
«Sie sagte mir, ich solle doch kurz in den Handstand gehen und dann wieder ins Zimmer kommen.»
Fürs Weitermachen gab es auch noch einen anderen Grund, sagt sie: «Ohne Sport und Bewegung war ich absolut unaushaltbar.» Das äussert sich auch in der Schule: Michelle kann nicht längere Zeit still sitzen, auch nicht bei Prüfungen. Ihre Lehrerin habe grossartig reagiert, sagt Heimberg: «Sie sagte mir, ich solle doch kurz in den Handstand gehen oder im Korridor eine Runde hin und her rennen und dann wieder ins Zimmer kommen.» Die ungewöhnliche Massnahme hilft: Michelle Heimberg kann sich wieder besser konzentrieren, ihre Noten sind sehr gut.
Mehrere Voraussetzungen muss die neue Herausforderung erfüllen: Sie muss olympisch sein, Kopf und Körper fordern – und dies mit kleineren Verletzungsrisiken als im Kunstturnen. Mit ihrer Mutter arbeitet sie im Internet die Liste ab. Rudern oder Schwimmen? Zu langweilig. Mountainbike oder Tennis? Geht nicht wegen der Knie.
Wasserspringen? Keine schlechte Wahl: Sie ist eine Wasserratte, schwimmt oft im Hallen- oder Freibad. Zuerst will man sie beim Schwimmlcub in Aarau nicht zulassen zum Schnuppertraining, sie sei schon zu alt. Zum Glück darf sie dann doch, und bald wird ihr Talent offensichtlich. Die Ähnlichkeit zum Kunstturnen hilft, bei der Grundausbildung gibt es viele Parallelen, vor allem in den Bereichen Bewegung, Sprungkraft, Orientierung in der Luft, Körperspannung. Auch das Verständnis für den eigenen Körper bringt sie mit, und das Verletzungsrisiko ist viel kleiner, obwohl beim Eintauchen ins Wasser grosse Kräfte wirken. Wenn es Probleme gibt, dann mit der Schulter. «Und ein blaues Auge hatte ich auch schon», sagt sie.
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Die Bedingungen bei dieser klassischen Randsportart sind nicht optimal, im ganzen Kanton Aargau gibt es bis heute kein Dreimeterbrett, das für Trainingszwecke geeignet ist. Die Fislisbacherin weicht darum nach Genf, Zürich oder Bern aus. Bald stellen sich Erfolge ein: 2015 holt sie in Moskau EM-Bronze bei den Juniorinnen, 2017 gewinnt sie in Kiew bei den Aktiven Silber. Es ist die erste EM-Medaille für die Schweiz überhaupt. Seither wird die Edelmetallsammlung regelmässig erweitert, auch im Synchronspringen und dort auch im Mixed.
Heimberg kennt die Anlage im Tokyo Aquatics Centre, hier hat sie sich im April mit Rang 10 den Quotenplatz gesichert. Wenige Wochen danach bestätigte sie in Budapest mit EM-Silber vom Einmeterbrett ihre Form. Sie hat sich im olympischen Dorf gut eingelebt, verbringt viel Zeit mit den Schwimmerinnen. Und sie geniesst die etwas grösseren Freiheiten. Im April noch mussten sie im Hotel sogar das Essen auf ihrer Etage einnehmen.
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Der 1. August ist ein besonderer Tag in der Schweizer Agenda. Das gilt auch für Michelle Heimberg: 2019 darf sie im zarten Alter von 19 in ihrer Heimatgemeinde die Festrede zum Nationalfeiertag halten und beeindruckt die 300 Zuhörerinnen und Zuhörer mit Charme und Witz. Überhaupt erledigt sie öffentliche Auftritte souverän, ihre Interviews sind gehaltvoll wie bei kaum jemandem in ihrem Alter. «Mir macht das auch Spass», sagt sie bescheiden, «dadurch wird auch meine Sportart bekannter.»
Auf den Tag genau zwei Jahre nach jener Festrede findet am Sonntag in Tokio der Final der Top 12 statt. Via Vorrunde der 27 Teilnehmerinnen und Halbfinal der Top 18 möchte sie sich nur zu gern für den Showdown qualifizieren – das Potenzial dazu hat sie.
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Ihre Ziele formuliert sie aber vorsichtig: «Ich will Erfahrungen sammeln und den Wettkampf vor allem geniessen. Wenn mir das gelingt, bin ich oft am besten.» Fünf Sprünge gilt es zu absolvieren, je einen aus den Bereichen vorwärts, rückwärts, mit Auerbach, Delfin und Schraube. Der Druck sei gross: «Wenn einer missrät, ist man meist weg vom Fenster.»
Ihr Horizont geht bis Los Angeles 2028
Heimberg ist 21, das beste Alter für eine Wasserspringerin ist normalerweise 26 bis 28. Entsprechend geht ihr Horizont weit über Tokio und auch Paris 2024 hinaus; wenn alles gut läuft, will sie bis Los Angeles 2028 springen. «Die Gesundheit ist natürlich die Voraussetzung Nummer eins. Ich weiss aber, was alles noch besser werden kann und dass ich erst in jener Zeit meine Topform erreichen würde.»
Im Sommer wird sie parallel zum Sport ein Studium aufnehmen, Psychologie und Pädagogik, dazu Englisch im Nebenfach. Die Erfahrung aus der Kindheit hat sich eingebrannt: «Es kann von einem Tag auf den anderen alles vorbei sein.» Nur dass heute kein Arzt mehr die Richtung vorgibt, sondern ihr eigener Kopf: «Vom Wasserspringen kann ich nicht leben», ist Heimberg bewusst. «Zudem würde mich der Sport allein zu wenig fordern.» Das Mädchen von einst ist erwachsen geworden. Aber Kopfstände macht es noch immer.
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