Olympia 2021: Estelle WettsteinSie ist jung, draufgängerisch – und schafft einen seltenen Spagat
Estelle Wettstein will dazu beitragen, dass die Schweizer Baisse im Dressurreiten bald endet. Den Kick holt sich die 24-Jährige in einer anderen Disziplin.
Unterschiedlicher könnten Dressur- und Springreiten kaum sein, das zeigt sich schon im Training. Sportlerinnen und Sportler, die der ersteren Disziplin frönen, üben immer wieder die gleichen Lektionen, um am Wettkampf die Dressuraufgabe möglichst fehlerfrei absolvieren zu können. Springreiterinnen arbeiten dagegen ganz anders. Ein Springpferd wird im Training locker geritten, und es wird maximal zwei- bis dreimal pro Woche gesprungen. Maximale Explosivität wird erst im Parcours unter Ernstkampfbedingungen verlangt.
«Dressur ist ein Tanz, Springreiten ein Hindernislauf.»
Estelle Wettstein hat in beiden Bereichen Spass – und Erfolg. Sie gehörte bis zum altersbedingten Ausscheiden dem Schweizer Juniorinnen-Springkader an, in der Dressur ist sie im Elite- und im U-25-Kader. Hier will sie «kreative und künstlerische Akzente» setzen, beim Springen seien vor allem andere Qualitäten gefragt: «Dressur ist zwar die Basis fürs Springen, dort geht es aber vor allem um Geschicklichkeit und Draufgängertum.» Soll sie die Unterschiede beschreiben, wählt sie einen Vergleich: «Dressur ist ein Tanz, Springreiten ein Hindernislauf.» Und: «Generell fliesst im Springen viel mehr Adrenalin.»
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Schweizweit und auf internationalem Niveau gibt es nur sehr wenige Pferdesportler, die den Spagat zwischen zwei Disziplinen geschafft haben. National gilt es Paul Weier zu nennen. Der Olympiareiter, Parcoursbauer, Ausbildner und Berater ist bis heute der einzige Schweizer, der in allen drei olympischen Disziplinen (Springen, Dressur, Vielseitigkeit) nationaler Meister wurde. International schafften es vor allem der Deutsche Reiner Klimke und dessen Tochter Ingrid, die sich als Dressur- und Vielseitigkeitsreiter einen Namen machten.
Die Eltern machten es vor
Bei Estelle Wettstein kommt die familiäre Vorbestimmung dazu. Dass sie einmal auf hohem Niveau reiten würde, hatte sich schon sehr früh abgezeichnet, und auch, dass sie die Qual der Wahl haben würde. Die Mutter war Dressurreiterin, der Vater Springreiter, beide sind heute ihre Haupttrainer. «Mir wurden beide Disziplinen in die Wiege gelegt», erinnert sich die Tochter, die seit dem Abschluss der kaufmännischen Ausbildung auf dem elterlichen Sport- und Handelsstall Fohlenhof in Wermatswil im Kanton Zürich voll eingebunden ist. «Normalerweise entscheidet man sich für eine Disziplin, weil sie mehr Spass macht oder weil man deutlich besser darin ist. Bei mir war und ist das nicht so.»
Aktuell legt Estelle Wettstein den Fokus auf die Dressur, sieht das aber eher als Momentaufnahme: «Ich schliesse nicht aus, dass es einmal anders sein wird.» Dass sie aber einmal ähnlich wie Weier alle drei Disziplinen ausüben wird, davon geht sie nicht aus: «Da spricht auch meine perfektionistische Seite dagegen. Manchmal habe ich schon mit zwei Disziplinen Mühe.» Der Perfektionismus zeigt sich nicht nur im Sport: 2016 schloss sie berufsbegleitend die Berufsmaturität im Selbststudium ab, 2019 die Ausbildung zur «Spezialistin der Pferdebranche mit Eidgenössischem Fachausweis». Beide Male mit sehr guten Noten.
Nach 1988 ging es für die Schweiz steil bergab
Nicht weniger als 15 der 23 Schweizer Pferdesport-Medaillen wurden in der Dressur gewonnen. Die letzten Erfolge gehen aber auf Seoul 1988 zurück: Damals gewann Christine Stückelberger, die Goldgewinnerin von 1976 in Montreal, Bronze im Einzel und Silber im Team, das durch Otto Hofer, Daniel Ramseier und Samuel Schatzmann komplettiert wurde.
Seither ging es teilweise steil bergab, letztmals ein komplettes Team stellte die Schweiz 2004. Die drei Jahrzehnte andauernde Baisse sei schwierig zu erklären, sagt Wettstein: «Vielleicht haben wir uns zu stark auf den Lorbeeren ausgeruht und zu wenig Know-how aus dem Ausland geholt. Jetzt sind wir aber wieder auf gutem Weg. Die Stimmung ist gut, wir helfen uns gegenseitig.» Ziel ist es, dass in Paris in drei Jahren wieder ein vollständiges Team am Start ist.
«Wenn ich sie auf meiner Seite habe, geht sie für mich durchs Feuer.»
Vorerst ist Estelle Wettstein aber in Tokio ab Samstag allein auf sich und ihre 13-jährige Oldenburger Stute West Side Story OLD angewiesen. Die Reiterin lobt ihre vierbeinige Partnerin: «Sie ist sehr menschbezogen, enorm bewegungsfreudig und eine richtige Frau. Wenn ich sie auf meiner Seite habe, geht sie für mich durchs Feuer.» Die Zielsetzung für ihre Olympiapremiere ist ein Platz unter den Top 30, also in der ersten Hälfte der Rangliste. «Wenn es sehr gut läuft, ist auch die Kür der Top 18 möglich», sagt die letztjährige Schweizer Meisterin.
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