Künftige Ausrichtung der ArmeeSie bereitet uns auf eine unsichere Welt vor
Erstmals ist mit Viola Amherd eine Frau verantwortlich für den sicherheitspolitischen Bericht. Diese Gefahren sieht die Verteidigungsministerin für die Schweiz.
Der neue Bericht des Bundesrats zur Sicherheitspolitik der Schweiz ist deutlich kürzer als frühere Ausgaben, dafür umfassender. Es ist für die Schweiz das erste Mal, dass mit Bundesrätin Viola Amherd und der Chefin für Sicherheitspolitik, Botschafterin Pälvi Pulli, zwei Frauen den Lead haben. Gestern hat der Bundesrat die Lagebeurteilung samt den Zielsetzungen für die Armee genehmigt. Der Bericht geht nun in die Vernehmlassung, dann befasst sich das Parlament damit.
Wachsende Unsicherheit
Instabil, unübersichtlich, unberechenbar: Spannungen und machtpolitische Rivalitäten unter Staaten und nichtstaatlichen Akteuren werden immer stärker. Die Zahl der Cyberangriffe nehme stetig zu, auch gezielte Desinformationskampagnen auf internationaler Ebene hätten sich verstärkt, steht im Bericht. An den Rändern Europas drohten zudem neue Konflikte, die mit konventionellen Waffen ausgetragen werden könnten – das heisst, mit Panzern, Artillerie, Flugzeugen und Marschflugkörpern. Doch damit nicht genug: Der Klimawandel werde in Zukunft vermehrte Naturkatastrophen zur Folge haben und die gegenwärtige Pandemie habe eine weltweite Krise ausgelöst. Das Fazit Amherds, ihrer Chefstrategin im VBS und des Bundesrats ist somit klar: «Die Schutzwirkung des geografischen und politischen Umfelds der Schweiz hat abgenommen.»
Kritische Rolle der Grossmächte
Jahrelang wurden die USA von den höchsten Schweizer Offizieren als Schutzmacht Nummer eins der Schweiz angesehen, auch wenn man aus Neutralitätsgründen dem Verteidigungsbündnis Nato nicht beitreten konnte. Dieses lange Zeit unhinterfragte Bild Amerikas weicht im neuen Bericht einer differenzierteren Betrachtungsweise. Die internationale Sicherheitslage sei heute von einer verstärkten Konkurrenz der Grossmächte USA, China und Russland geprägt. Neben diesen drei Staaten setzten auch Regionalmächte vermehrt Druckmittel ein, um ihre eigenen Rechts- und Verhaltensnormen, ihre Macht und ihren Einfluss vermehrt durchzusetzen. Die USA hätten ihren Einfluss in den letzten Jahren nur selektiv wahrgenommen, was es China und Russland erlaubt habe, ihren Einfluss zu vergrössern. Dass der Regierungswechsel in Washington zu einer vermehrten Abrüstung führe, sei zwar möglich, aber «keineswegs sicher», steht im Bericht. Die langjährige Dominanz der USA scheine nun auf das Ende zuzugehen. Die Europäer müssten künftig wohl vermehrt selbst für ihre Verteidigung schauen und diese auch bezahlen.
Verdeckte Söldnereinsätze
Der Bericht Amherds beschreibt eine neue Art, wie Konflikte künftig ausgetragen werden könnten. Die Gewaltbereitschaft in internationalen Beziehungen sei hoch, heisst es. Staaten, die ihre Macht verteidigen oder ausweiten wollten, handelten aber vermehrt in einer Grauzone zwischen bewaffnetem Konflikt und Frieden, steht im Bericht. Dabei verwischten nichtstaatliche Akteure (Söldnerfirmen) bewusst die Grenzen zu den staatlichen Akteuren. Mit staatlichen Akteuren meint Amherd reguläre Armeen, etwa Russlands oder Chinas. In solchen Konflikten, im Fachjargon «hybride Konflikte» genannt, ist im ersten Moment unklar, wer genau mit welchen Methoden für seine machtpolitischen Ziele kämpft. Klar ist für Amherd auch, dass das Neuartige das Herkömmliche nicht ersetzt, wie sie vor den Medien ausführte. Und der Bericht macht klar, dass die traditionellen militärischen Mittel der Konfliktaustragung durch die neue Art der Konfliktführung nicht ersetzt werden. Im heutigen Umfeld würden Panzer genauso eingesetzt wie Sonderoperationskräfte und Präzisionswaffen. Neue Technologien und künstliche Intelligenz böten neue Möglichkeiten für neuartige, autonome Waffensysteme. Insbesondere Drohnen erweiterten gemäss Bericht das Potenzial für Angriffe, Spionage und Datenübermittlung.
Bewaffnete Konflikte
Eine klare Sprache spricht der Bericht auch, wenn es um das Verhältnis Russland/Nato geht. «Die Konfrontation zwischen Russland und westlichen Staaten ist kein kurzfristiges Phänomen», heisst es wörtlich. Beide Seiten seien zwar bemüht, Krieg zu vermeiden. Das Risiko für einen bewaffneten Konflikt sei in den letzten Jahren aber gestiegen. So strebe Russland die Fähigkeit an, im Westen Krieg gegen einen starken, konventionellen Gegner führen zu können. Auch die Nato und bündnisfreie europäische Staaten richteten sich wieder verstärkt auf einen konventionellen Konflikt aus.
Was bedeutet dies alles für die Schweiz?
Die Schweiz ist gemäss sicherheitspolitischer Einschätzung des Bundesrats nicht unmittelbar von einer kriegerischen Attacke bedroht. Sie könnte, nach Einschätzung im Bericht, eines Tages aber durch weitreichende Waffen bedroht oder erpresst werden. Welche Akteure dafür infrage kämen, benennt der Bericht nicht. Anders sieht es beim verbotenen Nachrichtendienst aus. Hier sei die Schweiz als Sitz internationaler Organisationen und multinationaler Konzerne, als Finanz- und Handelsplatz sowie als Standort von Technologie und Forschung ein attraktives Spionageziel. Zudem können fremde Nachrichtendienste Diplomaten, Armeeangehörige, Wirtschaftsmanagerinnen und -manager sowie Journalistinnen und Journalisten ins Visier nehmen. Sodann drohten der Schweiz schwere, organisierte Kriminalität sowie Katastrophen und Notlagen als Folge des Klimawandels.
Die Interessen des Bundes
Die Schweiz beharrt gemäss Bericht auf den bisherigen Prinzipien der Neutralität und der Kooperation. Die Schweiz kooperiere sicherheitspolitisch insbesondere mit europäischen Staaten, sei international stark vernetzt und wolle grundsätzlich mit allen Staaten gute Beziehungen pflegen. Der Kerninhalt der Neutralität diene dazu, sich aus bewaffneten Konflikten herauszuhalten und die Unparteilichkeit zu wahren. Streitigkeiten zwischen und innerhalb von Staaten müssten mit friedlichen Mitteln beigelegt werden; die Anwendung von Gewalt sei nur zur Selbstverteidigung oder auf der Grundlage eines Beschlusses des UNO-Sicherheitsrats legitim.
Sicherheitspolitische Ziele
Wichtig sind nun gemäss Ausführungen Viola Amherds eine verbesserte Früherkennung von Bedrohungen, Gefahren und Krisen. Auch weit entfernte Konflikte könnten plötzlich Auswirkungen auf die Schweiz haben, sagte sie. Wichtig blieben für die Schweiz sicherheitsrelevante internationale Organisationen. Die Schweiz engagiere sich für eine regelbasierte internationale Ordnung sowie eine bilaterale und multilaterale Zusammenarbeit – insbesondere mit den Nachbarstaaten und sicherheitspolitischen Organisationen. Die Armee muss sich, so steht es im Bericht weiter, verstärkt auf hybride Konfliktführung ausrichten. Zudem soll der Schutz vor Cyberangriffen verstärkt werden, auch was die Institutionen der Schweiz und die Wirtschaft anbelangt. Gestärkt werden soll auch der Sicherheitsverbund Schweiz, dem neben der Armee auch der Zivilschutz, die Grenzwache sowie die Polizei angehören. Ein besonderes Augenmerk will Amherd einer besseren Versorgungssicherheit der Schweiz schenken. Die aktuelle Pandemie habe gezeigt, wie schnell Versorgungslücken auftreten könnten, sagte sie vor den Medien.
Unterschiede zu früheren Berichten
Der neue sicherheitspolitische Bericht ist im Vergleich zu früheren Berichten weniger technokratisch abgefasst und somit über weite Strecken besser verständlich geschrieben. Dies scheint kein Zufall zu sein. Bundesrätin Amherd will die Sicherheitspolitik künftig nicht mehr einem Expertenzirkel überlassen, sondern innerhalb von Bevölkerung und Politik breiter diskutieren lassen als bisher. Dies betonte sie vor den Medien. Inhaltlich erscheint der neue Bericht gegenüber den Grossmächten USA, China und Russland ausgewogener als frühere Berichte und er betont auch die Chancen des neutralen Kleinstaates Schweiz dezidierter.
Die grosse Frage aber betrifft die Umsetzung der Ziele, die von der Terrorabwehr bis zur Verteidigung mit konventionellen Waffen reichen. Amherd sagte dazu, dass man künftig nicht auf erhöhte Budgets im Verteidigungsbereich zählen könne.
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