Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz«Fragen Sie sich, ob Sie das auch einem Mann sagen würden»
In Schweizer Firmen kommt es häufig zu übergriffigem Verhalten. Expertin Franziska Saxler sagt, wieso dazu auch Witze über Frauenparkplätze gehören und was sie Betroffenen rät.
- Über die Hälfte der Befragten erlebt sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz.
- Sexuelle Belästigung führt zu psychischen Belastungen und kann Frauen beschämen.
- Rund ein Viertel der Betroffenen erwägt die Kündigung aufgrund von Belästigung.
- Massnahmen existieren, doch Belästigung bleibt häufig, besonders in hierarchischen Sektoren.
Die Hand auf dem Rücken der Praktikantin, die wiederholte Einladung zum privaten Abendessen, ein Witz über den Ausschnitt der Arbeitskollegin vor dem versammelten Team: Sexuelle Belästigung ist in der Schweiz weitverbreitet.
Laut einer neuen Studie des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) und des Staatssekretariats für Wirtschaft erlebte über die Hälfte der befragten Arbeitnehmenden am Arbeitsplatz eine mögliche sexuelle Belästigung. Rund ein Drittel machte eine solche Erfahrung allein im vergangenen Jahr.
In der Schweiz kennen sich nur wenige so gut aus mit dem Thema wie Franziska Saxler. Sie forscht an der Universität Bern zum Thema und hat Ende September ein Buch dazu veröffentlicht.
Frau Saxler, überrascht Sie das Studienergebnis?
Franziska Saxler: Nein, überhaupt nicht. Es überrascht mich eher, dass die Leute überrascht sind. Die Problematik von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz wird maximal unterschätzt.
In der Studie wurde separat gefragt, ob sich die Betroffenen sexuell belästigt gefühlt haben oder einfach nur gestört. Wieso muss so genau nachgefragt werden?
Viele haben ein falsches Bild von sexueller Belästigung. Der aufdringliche Chef oder der grapschende Kollege im abgeschlossenen Kopierraum zum Beispiel. Dabei haben auch viele vermeintlich harmlosere Verhaltensweisen negative Folgen und fallen deshalb unter den Begriff. An diese haben wir uns jedoch so gewöhnt, dass sie oft gar nicht erwähnt werden.
Saxlers Buch heisst «Er hat dich noch nicht mal angefasst». Auch in der neuen Studie hatten nicht alle Betroffenen unerwünschten Körperkontakt. 27 Prozent der Frauen und 17 Prozent der Männer berichteten davon. Mit Abstand am häufigsten bestand jedoch das «potenziell belästigende Verhalten am Arbeitsplatz» darin, dass Kollegen und Vorgesetzte allgemeine obszöne Witze über Frauen, Männer oder queere Menschen gemacht hatten.
Die Studie zählt einen dummen Witz im Büro über Frauenparkplätze zur möglichen sexuellen Belästigung. Ist ein solcher Spruch wirklich so schlimm?
Saxler: Es bleibt ja selten bei nur einem Witz. Kommen diese sehr oft vor, können sie bei den Betroffenen zu einem Grundlevel an psychischem Stress führen. Ständige Sprüche über Frauen geben diesen zum Beispiel das Gefühl, dass sie im Unternehmen nicht für voll genommen werden.
Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz hat gemäss der Studie zahlreiche negative Auswirkungen auf die Betroffenen. Dazu gehören Depressionen, Schlafprobleme und körperliche Beschwerden. Die Auswirkungen auf Männer und Frauen fallen dabei unterschiedlich aus. Sind Erstere betroffen, verschlechtert sich bei ihnen vor allem das Verhältnis zum Täter oder der Täterin. Frauen hingegen schämen sich. Generell sind sie öfter Opfer, während die Täter meist Männer sind.
Weshalb schämen sich vor allem Frauen, wenn sie sexuell belästigt wurden?
Wer von einem solchen Vorfall erzählt, muss sich häufig rechtfertigen und erklären. Es kommen Fragen wie: Was hast du getragen? Bist du sicher, er hat das so gemeint? Niemand fragt, ob man einen Rock anhatte, wenn einem die Handtasche geklaut wird. Scham ist das diffuse Gefühl, dass etwas an einem falsch ist, man einen Fehler gemacht hat oder nicht gut genug ist. Studien zeigen, dass sich Frauen generell viel häufiger schuldig fühlen als Männer.
Ist die Frage denn nicht berechtigt, ob eine vermeintliche sexuelle Belästigung nicht einfach ein Missverständnis war?
In den allermeisten Fällen von Belästigung war die Absicht genauso unangemessen, wie es sich angefühlt hat. Aber auch wenn es sich um ein Missverständnis handelt, ist das letztendlich irrelevant.
Wie meinen Sie das?
Entscheidend sind die Gefühle der Opfer. Fühlt sich jemand belästigt, wurde eine Grenze überschritten, und das gilt es zu respektieren.
Ist es nicht etwas unfair, wenn man wegen eines Missverständnisses als Täter oder Täterin abgestempelt wird?
Man muss ja niemanden ins Gefängnis stecken. Und es ist auch in Ordnung, wenn verschiedene Auffassungen darüber existieren, wie etwas gemeint war. Es sollte aber so oder so dafür gesorgt werden, dass Grenzüberschreitungen nicht mehr passieren. Das ist auch im Interesse der Unternehmen.
Rund ein Viertel aller Studienteilnehmerinnen, die sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz erlebt haben, hatten den Wunsch, zu kündigen. Acht Prozent haben das auch tatsächlich gemacht. Eine Stelle neu zu besetzen, kann ein Unternehmen schnell ein paar Tausend Franken kosten. Dazu kommen ein schlechteres Arbeitsklima und Abwesenheiten am Arbeitsplatz.
Es ist deshalb nicht überraschend, dass über 80 Prozent der befragten Unternehmen Massnahmen gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz eingeführt haben. Sie haben zum Beispiel interne oder externe Meldestellen und bekennen sich in ihren Leitbildern und Reglementen zur Nulltoleranz bei sexueller Belästigung.
Das allein führt jedoch noch nicht dazu, dass es zu keiner sexuellen Belästigung kommt. In der Branche der Banken, Versicherungen und Immobilien kennen zum Beispiel überdurchschnittlich viele Betriebe Massnahmen zum Schutz der Angestellten. Bei ihnen kommt es jedoch auch überproportional häufig zu Belästigungen. Besonders betroffen sind unter anderem auch das Gastgewerbe, das Gesundheits- und Sozialwesen und der Bausektor.
Wieso kommt es ausgerechnet in diesen Branchen häufiger zu sexueller Belästigung?
Anfällig sind besonders Unternehmen, die auf Wettbewerb ausgerichtet sind, strenge Hierarchien und mangelnde Diversität haben, vor allem auf Führungsebene. Drohen keine Konsequenzen, verstärkt sich das Problem. In der Gastronomie ist der Kunde oft noch König. Wer die Bedienung belästigt, wird weder entlassen noch droht ein Gespräch mit der Personalabteilung.
Viele Menschen, vor allem Männer, sind heute verunsichert, was man noch sagen darf, ohne der sexuellen Belästigung beschuldigt zu werden. Haben Sie einen Tipp für diese?
Grundsätzlich sollten wir uns alle damit auseinandersetzen, was für sexistische Verhaltensmuster wir vielleicht unbewusst verinnerlicht haben. Dazu sollte man sich in das Gegenüber hineinversetzen. Kann die Praktikantin wirklich ungezwungen entscheiden, ob sie über Ihren etwas anzüglichen Witz lacht? Und als Daumenregel: Fragen Sie sich zuerst, ob Sie sich gegenüber einem Mann – beziehungsweise einer Frau – auch so verhalten würden. Falls nein: Lassen Sie es lieber. Das gilt übrigens nicht nur für Männer.
Und was raten Sie den Beobachterinnen und Beobachtern von sexueller Belästigung?
Bleiben Sie nicht still. Bieten Sie den Betroffenen Unterstützung an und konfrontieren Sie wenn möglich die Urheber von unangemessenem Verhalten. Machen Sie klar, dass solches Verhalten inakzeptabel ist.
Und den Opfern?
Vertrauen Sie Ihrer Wahrnehmung. Wenn sich etwas falsch anfühlt, dann war es das meistens auch. Suchen Sie sich Menschen, die Ihnen glauben und Sie unterstützen. Ob Sie sich an die Personalabteilung oder die Polizei wenden wollen, ist eine sehr individuelle Entscheidung. Aber dokumentieren Sie zur Sicherheit alle Vorkommnisse.
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