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Interview zu sexueller Belästigung 
«Fragen Sie, bevor Sie irgendwem einen Kuss geben»

Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht und Medizinrecht an der Uni Zürich sowie deren untersuchende Person, wenn es um sexuelle Belästigung geht: Brigitte Tag. 
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Fast im Wochentakt werden prominente Männer der sexuellen Belästigung bezichtigt. Seit #MeToo scheint das Thema omnipräsent – und die Stimmung deswegen immer häufiger gereizt. Wenn jemand Sachlichkeit reinbringen kann in eine Debatte, die verlässlich hochkocht, weil sich die Frauen endlich gehört und die Männer unter Generalverdacht fühlen, dann Strafrechtsprofessorin Brigitte Tag von der Uni Zürich. Sie ist dort die untersuchende Person für sexuelle Belästigung und leitet die Abklärung der ihr gemeldeten Fälle.  

Frau Tag, was ist der grösste Irrtum, wenn es um sexuelle Belästigung geht?

Dass sie nicht vorkommt. Dass nur Frauen davon betroffen sind. Dass sie nicht so schlimm ist und die Betroffenen sie leicht wegstecken. Letzteres scheint mir der grösste Irrtum überhaupt. Sexuelle Belästigung ist ein Übergriff, der sich zum Teil enorm in die Psyche eingräbt, manchmal auch im Körper, Betroffene können jahrelang davon verfolgt werden. Es handelt sich nicht um eine Bagatelle. Dass vor allem Frauen Opfer sind, stimmt. Aber nicht nur.

Werden Männer Opfer von Männern oder von Frauen?

Von beiden.

Sexuelle Belästigung klingt als Begriff schwammig. Was fällt da eigentlich genau darunter?

Die sexuelle Belästigung ist ein Oberbegriff für persönlichkeitsverletzende Verhaltensweisen mit sexuellem Bezug. Erfasst werden solche, die sich ausserhalb des Strafrechts bewegen, etwa anzügliche, taxierende Blicke oder zufällige Körperberührungen mit sexuellem Bezug. Und dann fallen die strafrechtlich relevanten Handlungen darunter wie das ungewollte Zeigen von pornografischen Bildern, das Herabwürdigen eines anderen aufgrund seines Geschlechts durch grobe Worte oder sexuell konnotierte Tätlichkeiten. 

Man kann sich also alles Mögliche darunter vorstellen. Besteht die Gefahr, dass der Begriff dadurch verharmlost wird?

Das hat schon was, dem Wort Belästigung haftet ja auch etwas Bagatellhaftes an. Hinzu kommt, dass rein strafrechtlich gesehen der Straftatbestand der sexuellen Belästigung «nur» eine Übertretung ist, ein Delikt der leichtesten Kategorie. Diese Spannbreite trägt dazu bei, dass sie manchmal bagatellisiert wird. Aber es ist wichtig, zu sagen: Für diejenigen, die davon betroffen sind, ist es keine Bagatelle. Wenn Menschen gerade in diesem Bereich mit etwas Unerwartetem konfrontiert sind, mit etwas, das sie nicht haben kommen sehen, kann sie das nachhaltig traumatisieren.

Geht es bei der sexuellen Belästigung um Sex oder um Macht?

Es geht oft auch um Macht, weil sie sehr häufig unter Umständen passiert, wo Macht eine Rolle spielt, so in hierarchischen Verhältnissen. Am Arbeitsplatz zum Beispiel, in einer Schule oder an einer Universität. Natürlich gibt es auch innerhalb von Gleichrangigen sexuelle Belästigung, aber selbst dort stellt man dann oftmals hierarchische Verhältnisse fest. Die Macht manifestiert sich darin, dass sich jemand unerlaubt herausnimmt, eine andere Person mit einem sexuellen Motiv anzufassen oder mit ihr in einer ganz bestimmten Weise zu sprechen. Und die andere Person hat das in dieser Situation zu dulden. Manche wollen damit auch eine Art verloren geglaubte Macht zurückholen. Oft benehmen sie sich dann nicht aus einer Stärke, sondern aus einer Schwäche heraus so, um damit ihre Unsicherheit zu kaschieren.

Die Macht manifestiert sich darin, dass sich jemand unerlaubt herausnimmt, eine andere Person mit einem sexuellen Motiv anzufassen.

Männer sagen häufig, sie seien verunsichert. Können Sie ihnen eine Art Faustregel für den risikolosen Umgang mit Menschen beiderlei Geschlechts geben?

Ganz einfach: Bitte fragen Sie die andere Person, ob es ihr recht ist, wenn Sie sie anfassen, einen Kuss auf die Wange geben oder sich mit ihr verabreden. Also einfach ansprechen und fragen. Wenn dann ein positives Signal kommt, ist das doch schön. Und auch sehr praktisch, weil man weiss, dass man auf dem richtigen Weg ist und nicht noch ewig im Halbdunkeln herumtappen muss.

Die meisten Beziehungen fangen aber mit einer Art Grenzüberschreitung an – weil der eine den anderen küsst. Im echten Leben fragt schlicht kaum jemand vorher.

Weil dann eben oft ein stillschweigendes Einverständnis vorliegt und keine Grenzüberschreitung.

Bloss ist doch genau das die Crux: Der Mann findet, die Signale der Frau seien eindeutig – also eindeutig positiv für einen Kuss –, während die Frau fassungslos ist, dass er ihre Zeichen falsch interpretieren konnte.

Ja, da gibt es dieses Auseinanderklaffen der Wahrnehmung, das passierte uns ja allen schon. Dann ist es der Moment, sich für das Missverständnis zu entschuldigen und sich zurückzuziehen. Zudem: Die Welt verändert sich, und damit auch der Umgang miteinander. Deshalb sollte man sich schon immer mal wieder fragen, ob die eigenen Verhaltensweisen noch angebracht und zeitgemäss sind.

Brigitte Tag in der von Santiago Calatrava entworfenen Bibliothek am rechtswissenschaftlichen Institut der Uni Zürich. 

Ist es noch zeitgemäss, jemanden spontan in den Arm zu  nehmen?

Das sollte etwa im beruflichen Kontext oder im Rahmen der Ausbildung tatsächlich gut überlegt sein. Besser, man fragt zum Beispiel: Es tut mir sehr leid, dass du so traurig bist, ich würde dich gerne in den Arm nehmen, wäre das für dich o. k.? Deshalb sollte man darüber reden, auch in Schulen. Oft ist den Menschen gar nicht bewusst, dass ihr Verhalten von anderen als übergriffig empfunden wird. Das habe ich schon oft erlebt. Sie wussten einfach nicht, wie sie sich in einer bestimmten Situation angemessen verhalten sollten. Dies zeigt sich nicht nur, aber gerade auch bei Menschen mit einem anderen Background, bei Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund beispielsweise.

«Migrationskurse für Männer aus patriarchalischen Ländern sind eine sehr gute Idee.»

In Dänemark gibt es Migrationskurse, die sich vor allem an Männer aus patriarchalischen Ländern richten: Es wird ihnen erklärt, wie der korrekte Umgang mit dem anderen Geschlecht geht. Wäre das auch was für die Schweiz?

Das ist eine sehr gute Idee. Man kann damit nicht alle Probleme lösen. Aber es ist ein erster Schritt, wenn man erklärt, dass es nichts bedeuten muss, wenn einen eine Frau freundlich anlächelt. Bei uns herrschen zum Teil deutlich andere Gepflogenheiten und Gesetze, die erklärt werden sollten. Dann kann nachher keiner sagen, er habe das halt nicht gewusst.

Das Thema sexuelle Belästigung ist so allgegenwärtig, dass gewisse Ermüdungserscheinungen festzustellen sind. Ist das ein Problem?

Ja, weil manche vielleicht sagen, ach, das schon wieder, das haben wir doch schon zigmal gehört. Gleichzeitig ändert das natürlich nichts daran, dass die Kultur sich ändert und wir dabei sind, einiges aufzuholen. Es ist wichtig, dass immer wieder darauf hingewiesen und darüber gesprochen wird, auch, dass man klar sagt, es gibt Verhaltensregeln im Umgang miteinander, die gelten, vor allem im öffentlichen Bereich: im Tram, in der Bar, in der Disco, in der Vorlesung, im Büro.

Noch vor ein paar Jahren schauten wir fassungslos nach Amerika, wo sich Ärzte kaum mehr mit einer Patientin allein im Sprechzimmer aufhalten oder Beziehungen zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitenden verboten sind. Heute sind wir auch fast so weit. Ist das eine begrüssenswerte Entwicklung?

In vielen Lebensbereichen ist nichts mehr wie vor 50 Jahren, warum soll das beim Umgang miteinander anders sein? Es ist doch völlig normal, dass es einen Kulturwandel gibt, jede Gesellschaft wandelt sich. Zudem will hoffentlich niemand eine einvernehmliche Beziehung auf Augenhöhe verbieten.

«Die sexuelle Belästigung ist keine Epidemie, die Wahrnehmung hat sich verändert.»

Damit sind wohl alle einverstanden. Dennoch erscheinen einem die vielen öffentlich gewordenen Fälle fast wie eine Epidemie.

Es ist keine Epidemie, die Wahrnehmung und die Anschauung haben sich verändert. Ein Verhalten wird dann auffällig, wenn sich der Blick darauf verändert, wenn es nicht mehr akzeptiert wird. Und das wiederum macht Mut, darüber zu sprechen. Früher dominierten bei Betroffenen die Zweifel: Habe ich das richtig wahrgenommen? Vielleicht meinte das die Person gar nicht so? Bin ich zu empfindlich? Oder auch: Ich bin noch ganz neu hier im Job, da kann ich doch nicht schon mit so was kommen. Diese Erklärungsversuche spielen heute weniger eine Rolle.

Sieht im Strafrecht die Möglichkeit, sich zu verbessern: Brigitte Tag. 

Was waren die einschneidendsten Veränderungen im Strafrecht in den letzten Jahren?

Es gab etliche. Zum Beispiel, dass man heute bei Diskriminierungen und häuslicher Gewalt genauer hinschaut. Oder dass verstanden wurde, dass traumatisierte Opfer unter Umständen nicht in zusammenhängenden Sätzen erzählen, sich widersprechen und anders befragt werden müssen. Die grösste Entwicklung aber war natürlich Ja heisst Ja. Nur schon, wie sachlich die Diskussion im National- und im Ständerat geführt wurde, war wichtig. Ob sich dadurch allerdings in der Praxis viel ändert? Das Problem mit der Beweisbarkeit beim Vier-Augen-Delikt bleibt nach wie vor bestehen.

Wie beurteilen Sie die Entwicklung, dass das Strafrecht immer mehr gesellschaftliche Probleme lösen soll, vor allem Zwischenmenschliches?

Das Strafrecht macht einen Blick zurück und vor allem auch nach vorne. Es ist nicht primär dazu da, um abzuschrecken, wie es oft heisst. Zentral am Strafrecht ist der Lerneffekt. Eine Strafe ist der Beginn eines Prozesses, bei dem jemand die Chance hat, dazuzulernen und sich danach in der Gesellschaft hoffentlich anders zu bewegen. Wichtig sind etwa die Lernprogramme bei häuslicher Gewalt. Wer nur mit einer bedingten Geldstrafe davonkommt, freut sich – aber manchmal ist der Lerneffekt klein.

«Der Rekord war eine Frau, die ein Erlebnis schilderte, das vor 25 Jahren stattgefunden hatte.»

Sie sind nicht nur Strafrechtsprofessorin, sondern auch Anlaufstelle für sexuelle Belästigung an der Uni Zürich. Was erleben Sie da?

Es kommen immer wieder Menschen zu uns, die einfach erzählen wollen. Sie berichten, was ihnen vor vier, fünf, sechs oder gar zwanzig Jahren widerfahren ist. Der Rekord war eine Frau, die ein Erlebnis schilderte, das vor 25 Jahren stattgefunden hatte. Viele von ihnen möchten die Person, die sie belästigt hat, weder anzeigen noch sonst wie sanktioniert wissen, sie wollen sich das Erlebnis einfach von der Seele reden. Sie haben das jahrelang ad acta gelegt, jahrelang weggeschlossen. Nach dem Gespräch sagen sie oft: Danke, dass Sie mir zugehört haben. Jetzt kann ich abschliessen. Daneben gibt es aber natürlich die Betroffenen, die ein Tätigwerden explizit wünschen.

Was tun Sie dann?

Das Reglement zum Schutz vor sexueller Belästigung an der Uni Zürich gibt es nicht erst seit #MeToo, es wurde bereits 2007 in Kraft gesetzt. Personen, die geltend machen, dass sie belästigt worden sind, wenden sich an uns, und wir klären den Sachverhalt neutral ab, wir haben die Befugnis, mit allen Beteiligten zu sprechen und Beweismittel zu sichten. Man kann sich auch anonym an uns wenden, aber wir können dann grundsätzlich keine Abklärung gegenüber einer konkreten Person tätigen, die verdächtigt wird, die Grenzen überschritten zu haben, und auch keine Massnahmen ihr gegenüber verhängen. Denn dafür muss der gesamte Sachverhalt bestmöglich abgeklärt werden. Dazu gehört auch, dass sich die beschuldigte Person zum konkreten Vorwurf äussern kann. Aber wir schützen die belästigte Person so gut es geht anderweitig und werden im Normalfall nur mit ihrer Einwilligung tätig. 

«Wir haben nicht nur das Opfer zu schützen, sondern auch die Rechte der angeschuldigten Person.»

Man las in letzter Zeit immer wieder von Fällen, in denen Männer anonym beschuldigt wurden.

Wenn jemand der sexuellen Belästigung beschuldigt wird, kann das schnell in ganz viele Bereiche hineingehen: Strafrecht, Zivilrecht, Arbeitsrecht. Eine solche Anschuldigung hat einschneidende Konsequenzen, da hat die angeschuldigte Person das Recht, zu wissen, wer ihr was vorwirft, und sich dazu zu äussern. Ich weiss, dass das für die Person, die das alles erlebt hat, traumatisch sein kann. Deswegen binden wir auch die psychologische Beratungsstelle mit ein. Aber wir haben nicht nur das Opfer zu schützen, sondern auch die Rechte der angeschuldigten Person.

Selbst aufgeschlossene Männer beklagen, sie hätten mitunter das Gefühl, unter Generalverdacht zu stehen. Wie ernst soll man das nehmen?

Ignorieren wäre gar nicht gut. Wenn wir keine Rücksicht auf dieses Gefühl nehmen, führt das zu einer Gegenbewegung. Etliche Männer fühlen sich derzeit missverstanden, weil sie etwa finden, sie würden zum potenziellen Täter abgestempelt, obschon sie doch nur freundlich waren. Ich kann das gut nachvollziehen, versuche auch zu vermitteln und erkläre stets: Wir müssen einfach ein paar Dinge neu definieren oder zumindest offen diskutieren, und zwar gemeinsam, weil wir doch gemeinsam vorangehen wollen. Man muss alle mitnehmen, ohne bevormunden zu wollen.

Dennoch: Die Angst vor falschen Anschuldigungen hält sich hartnäckig, offenbar nicht nur zu Unrecht.

Es gibt falsche Anschuldigungen. Wie viele es sind, kann ich nicht beurteilen. Das Reglement zum Schutz vor sexueller Belästigung der Uni Zürich hat eine eigene Regelung, die festhält, dass falsche Anschuldigungen genauso verfolgt werden wie richtige Anschuldigungen, nur andersrum. Wenn wir im Laufe einer Abklärung merken, dass sich eine Geschichte nicht so zugetragen hat, wie behauptet wird, wenn sich jemand einen Vorteil damit verschaffen oder eine andere Person schädigen will, dann wird das genauso abgeklärt. Es ist absolut zentral, klar zu signalisieren, dass das nicht akzeptiert wird.

«Bei einer internen Abklärung will ich den ganzen Chat-Verlauf sehen und nicht nur das, was die angeschuldigte Person geschrieben hat.»

In den vergangenen Monaten verging kaum eine Woche, ohne dass ein prominenter Mann der sexuellen Belästigung bezichtigt wurde. Die Berichterstattung war oft einseitig, indem etwa nur seine SMS veröffentlicht wurden statt ganze Konversationen. Wie empfanden Sie das?

Ohne vollständige Akteneinsicht kann man solche Fälle schlicht nicht beurteilen. Bei einer internen Abklärung will ich den ganzen Chat-Verlauf sehen und nicht nur das, was die angeschuldigte Person geschrieben hat. Das kann sonst ein falsches Bild ergeben, wenn zum Beispiel Äusserungen aus dem Zusammenhang gerissen sind.

Schlägt das Pendel heute womöglich eher zugunsten der Frauen aus? Und lässt sich das damit rechtfertigen, dass es lange genug umgekehrt gewesen sei, wie manche finden?

Diskriminierung sollte nie mit Diskriminierung beantwortet werden. Das bringt nichts, denn dann hätten wir nichts dazugelernt und würden letztlich nur im Status quo verharren. Zudem habe ich diesen Eindruck aus der Praxis nicht.