Präsident Selenskis StabschefDer zweitmächtigste Mann der Ukraine ist manchen zu mächtig
Die einen sehen Andri Jermak unermüdlich im Einsatz für das bedrängte Land. Die anderen verbinden mit seinem Namen die Worte Korruption und Spionage.
Andri Jermak ist stets zur Stelle, wenn sein Chef keine Zeit hat. Egal, ob es darum geht, auf einer Konferenz in Saudiarabien für eine ukrainische Friedensformel zu werben. Oder ob es gilt, den ungarischen Aussenminister zu umgarnen vor der Entscheidung der EU über Beitrittsverhandlungen mit Kiew. Oder ob es dringend geboten ist, US-Parlamentarier davor zu warnen, weitere Hilfe zu verzögern, weil die Ukraine in dem Fall womöglich den Krieg verliert.
Wie gesagt, Andri Jermak ist zur Stelle und spricht für Präsident Wolodimir Selenski. Als dessen Stabschef ist er der zweitmächtigste Mann in der Ukraine.
Jermak gilt als glänzender Organisator und steht auch längste Arbeitstage selbst unter den Kriegsbedingungen durch. Dem US-Magazin «Business Insider» zufolge arbeitet der 53 Jahre alte Anwalt nicht nur wie Selenski selbst im Präsidentensitz. Jermak, solo und ohne Kinder, trainiert, isst und schläft auch dort. Mit gut 1,90 Metern thront der massiv gebaute Jermak über dem deutlich kleineren Selenski, der seinem Bürochef selbst die regelmässigen Gespräche mit dem Nationalen Sicherheitsberater des US-Präsidenten überlässt.
Sein Bruder soll versucht haben, Staatsämter zu verkaufen
Der Präsident und sein Stabschef kennen sich seit mehr als einem Jahrzehnt: Selenski war damals Produzent des Fernsehsenders Inter, Jermak ein auf Copyright spezialisierter Anwalt. Nachdem Selenski 2019 Präsident geworden war, feuerte er Anfang 2020 seinen ersten Bürochef und holte Jermak in seinen Stab. Der ist inzwischen eine graue Eminenz in der Ukraine geworden.
Jermak und etliche seiner Stellvertreter sind aber auch sehr umstritten. Im Frühjahr 2020 veröffentlichten der Parlamentarier Geo Leros, der Investigativdienst Bihus und der Sender Radio Liberty Videos und anderes Material, das zum Beispiel Jermaks Bruder Denis beim Versuch zeigte, Staatsämter zu verkaufen.
Als russischer Spion beschuldigt
Der Skandal wurde ebenso wenig öffentlich aufgeklärt wie Behauptungen, der Stabschef sei ein russischer Spion. Diesen Verdacht hat nicht nur der russische Politologe Andrei Piontkowski erhoben, sondern er soll der Zeitung «Serkalo Nedeli» zufolge auch vom Chef des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6 geäussert worden sein während eines Besuchs von Selenski in London 2020. Jermak nannte die Behauptungen «lächerlich»; der Chef des Militärgeheimdienstes sagte zu «Business Insider», Jermaks Unschuld sei erwiesen.
Umstritten sind aber auch andere Handlungen von Jermak und seinen Stellvertretern. Sie sollen Geheimdienste, Generalstaatsanwaltschaft, Antikorruptionsbehörden und einen grossen Teil der Wirtschaft mitkontrollieren. Gegen Jermaks für die Wirtschaft zuständigen Stellvertreter etwa ermittelt offenbar das Nationale Antikorruptionsbüro wegen Berichten über anrüchige Geschäfte unter Beteiligung von dessen Bruder. Der für die Justiz und die Korruptionsbekämpfung zuständige Vize wiederum wurde offiziell der Bestechung bezichtigt.
Sowohl Bürochef Jermak als auch Präsident Selenski behaupten gleichwohl, die Ukraine habe kein sonderliches Problem mit Korruption. Als Ex-EU-Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker der Ukraine Anfang Oktober wegen Korruption «auf allen Ebenen» die EU-Reife absprach, stritt Jermak dies «kategorisch» ab. Tatsächlich ist Korruption in der Ukraine allumfassend (lesen Sie hier einen Hintergrundbericht über die Korruption) und hat nach Angaben von Fachleuten in manchen Bereichen seit dem russischen Überfall noch zugenommen.
Auch vom Kriegsgeschehen selbst zeichnen Jermak und sein Chef mitunter ein zu positives Bild. So behauptete der Stabschef während eines Besuchs in Washington, ukrainische Truppen hätten sich am östlichen, von Russland besetzten Ufer des Dnjepr festgesetzt. Dort eingesetzte Soldaten hingegen sagten der «New York Times», es gebe keinen Brückenkopf, vielmehr sei ihr Einsatz eine «Selbstmordmission».
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