Ewige SportmomenteSelbst der Wunderläufer galt als dummer Sportler
Der Brite Roger Bannister bewältigt 1954 als Erster eine Meile unter 4 Minuten. Es ist eine der prägendsten sportlichen Leistungen des Jahrhunderts. Sechs Erkenntnisse, die bis heute aktuell sind.
Einzig der Superlativ genügte, als Roger Bannister mit aufgerissenem Mund die 1609 Meter in 3:59,4 Minuten zurückgelegt hatte. Die «New York Times» berichtete gar auf ihrer Titelseite und titelte keck: «Er bezwang die Uhr.» In Europa schrieben die Gazetten von einem «sporthistorischen Tag» und «der wichtigsten sportlichen Leistung des Jahrhunderts», als der 25-Jährige am 6. Mai 1954 auf der Aschenbahn an der Oxforder Iffley Road die Schallmauer durchbrochen hatte. Das Ereignis hat mittlerweile zwar an Strahlkraft eingebüsst. Bannisters Rekordlauf ist primär noch sehr Sportinteressierten präsent. Die Zeit überdauert haben jedoch viele Facetten dieses sporthistorischen Moments, weil sie bis heute Gültigkeit (für die Welt des Sports) haben. Sechs Beispiele dafür:
Die Kraft der Gedanken
Roger Bannister war ein Intellektueller – und zählte als Mediziner auf dem Gebiet der Neurologie zu den Grössen. Die Kraft des Geistes nutzte er auch als Athlet. Geboren 1929 und damit ein Kind des Zweiten Weltkriegs, stellte er sich auf der finalen Runde seines Rekordlaufs vor, wie es um ihn herum Bomben regnen würde – und Maschinengewehre ratterten. Es war seine Art, sich zu pushen. Dank einer sehr schnellen letzten Runde trieb er sich tatsächlich unter die 4 Minuten.
In den Wochen vor dem Rekord hatte er sich seinen Lauf immer wieder vorgestellt. Er hörte die Zuschauer kreischen und erlebte Mal ums Mal, wie er auf die Ziellinie zustürmte und die Schallmauer knackte. Im Sport wird diese Technik mittlerweile breit angewandt, Visualisierung heisst sie und zählt zu den psychologischen Trainingsaspekten eines Athleten.
Jedes Detail will beachtet sein
Mit dem Radteam um den vierfachen Sieger der Tour de France Chris Froome rückte ein Ansatz aus der Spitzensportwelt in den breiteren Fokus: Noch das kleinste Detail gehört verbessert, weil alle verbesserten Details zusammen den Unterschied zwischen Platz 1 und 2 ausmachen können. Viel war darum von diesen «marginal gains» während Froomes Erfolgen die Rede. Weder ist der Ansatz neu noch besonders. Schon Roger Bannister pflegte ihn. Seine Laufschuhe etwa liess er sich aus Känguruleder fertigen. Sie galten als besonders leicht (und bequem). Mit 160 Gramm waren sie im Vergleich mit damaligen Schuhen tatsächlich sehr leicht.
Die Spikes schliff er zudem bei sich im Labor, um sie noch dünner und leichter zu machen. Ein Kollege staunte über so viel Detailbesessenheit, das bringe ihm bestimmt keine Sekundenvorteile. Bannister entgegnete: Ich versuche jeden Hundertstel herauszuholen. Die Spikes wurden 2015 übrigens versteigert – für 266’500 Pfund an einen anonymen Fan.
Spannung und Entspannung
Zu den Besonderheiten von modernen Profi-Ausdauerathleten zählt, dass sie wie Ochsen trainieren. Toplangläufer kommen auf bis zu 1000 Stunden pro Jahr, Ruderer oder Radfahrer gar auf 1500. Das Problem dabei: Sie sind an Wettkämpfen oft zu wenig ausgeruht. Da aber jeder Konkurrent ähnlich viel trainiert, will keiner weniger an sich arbeiten. Ein Teufelskreis und laut Experten mit ein Grund, warum die Fahrer an der diesjährigen Tour de France derart schnell unterwegs waren. Covid-19 hatte sie erst gebremst, zu Pausen gezwungen – und damit auch zu mehr Frische.
Um die Bedeutung von Spannung und Entspannung wusste bereits Roger Bannister. Monatelang bereitete er sich auf den grossen Tag vor, doch drei Wochen vor dem anvisierten Termin fühlte er sich nur noch ausgelaugt. Mit Freund und Tempomacher Chris Brasher entschied sich Bannister, vier Tage in Schottland klettern zu gehen. Die Distanz – geistig wie räumlich – erlebte Bannister als komplette Erfrischung.
Die Trainings fühlten sich nach der Rückkehr plötzlich leicht an, selbst die harten. Die angepeilten Rundenzeiten für den Rekord schaffte er nun locker. Bannister war bereit und erlaubte sich darum gar, die letzten fünf Tage vor dem Angriff zu pausieren, was sich heute kaum mehr ein Topathlet vor einem epochalen Einsatz herausnehmen würde.
Ziele im und neben dem Sport
Roger Bannister war eine Person mit hohem Leistungswillen. Dieser definierte sein Leben: Als Athlet mit sehr begrenztem Zeitbudget – Bannister studierte in Oxford Medizin – trainierte er jeweils über Mittag und maximal für 45 Minuten, dafür sehr intensiv. Er nahm einen Ansatz vorweg, der mittlerweile den Hobbysport erreicht hat: in möglichst kurzer Zeit dank maximaler Intensität besser zu werden.
Sein Leistungsethos führte dazu, dass Bannister noch im Jahr seines Rekords aufhörte. Mehr könne er nicht erreichen. Er widmete sich darauf ganz der Medizin (neben Frau, vier Kindern und zahlreichen Ehrenämtern) – und wurde darin zu einer Kapazität von internationalem Renommee.
Auch seine ewigen Freunde und Tempomacher hatten dieses Macher-Gen. Chris Chataway wurde zu einem bekannten konservativen Politiker und Banker, Chris Brasher, 1956 Olympiasieger über 3000 Meter Steeple, zu einem namhaften BBC-Journalisten, Unternehmer und Gründer des London Marathon. Wie Bannister wurden beide mit dem Sir-Titel geadelt.
Die Macht der Zufälle
Auch wenn Roger Bannister seinen Rekord minutiös plante, profitierte er von vielen Zufällen. Dazu zählte das rigide Sportverständnis der damaligen Zeit. Leichtathleten durften nicht Profis sein, nahmen sie Geld für ihre Leistungen, wurden sie ausgeschlossen. Darum näherte sich der Schwede Gunder Hägg diesen magischen 4 Minuten zwar bereits 1945 auf bis eine Sekunde an, wurde aber kurz darauf von den Bahnen verbannt, weil er sich für seine Auftritte bezahlen liess. Hägg, noch jung und in voller Schaffenskraft, hätte den Durchbruch wohl schon vor Bannister geschafft.
Nach seiner Suspendierung und dem Zweiten Weltkrieg hatten andere talentierte Läufer erst einmal andere Prioritäten, als möglichst schnell um eine 400-Meter-Bahn zu kreisen. Und als mit dem Australier John Landy ein Rekordkandidat auftauchte, scheiterte er erst sechsmal knapp an der Schallmauer – ohne wie Bannister von Tempomachern zu profitieren, da sie Landy ablehnte. Dann unterbot er Bannisters Rekord schon nach 46 Tagen deutlich (3:57,9). Nur: Weil er per Schiff von Australien an den finnischen Wettkampfort reisen musste und diese Reise mehrere Wochen dauerte, hatte Bannister die Gunst des Moments nutzen können – und war Landy zuvorgekommen.
Die dummen Sportler
Seit es (Spitzen-)Sportler gibt, hält sich das Klischee: Körperlich mögen sie top sein, geistig sind sie unbeweglich. Selbst einer wie Roger Bannister, der an einer der Prestige-Unis von Oxford studiert hatte, bekam diese Denkweise zu spüren. Erst 170 Neurologen gab es in Grossbritannien, als sich Bannister anschickte, der nächste zu werden. Die Kollegen hätten lange an seinen geistigen Fähigkeiten gezweifelt, sagte er einst.
Darum lehnte er 1964 gar eine Einladung an die Sommerspiele von Tokio ab. Bannister fürchtete, ansonsten zum Gesprächsthema der Kollegen zu werden mit Sätzen wie: «Wo ist dieser Bannister-Bursche schon wieder? Oh, er ist in Tokio. Er ist halt nichts anderes als ein Läufer, das haben wir doch schon immer gesagt.» Bannister reagierte mit kompletter Hingabe zu seinem Beruf, «um die Wahrnehmung der Leute zu ändern und ihnen zu zeigen, wie engagiert ich bin». Als er 2018 mit 88 Jahren verstarb, war ihm dies längst gelungen.
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