Seenotrettung: EU-Staaten einigen sich auf Übergangslösung
Nach Jahren des Stillstandes haben Deutschland, Frankreich, Italien und Malta eine vorläufige Einigung zur Verteilung von aus Seenot geretteten Flüchtlingen erzielt.
Im Fort St. Angelo hat Maltas Innenminister Michael Farrugia seine Amtskollegen aus Deutschland, Italien und Frankreich empfangen. Ihr Ziel: ein Notfallmechanismus für auf dem Mittelmeer gerettete Flüchtlinge. Er soll verhindern, dass die Schiffe der privaten Seenotretter tage- oder wochenlang ausharren müssen, bis sich genügend aufnahmebereite EU-Länder finden.
Er sei «vorsichtig optimistisch», sagte der deutsche Innenminister Horst Seehofer vor dem Treffen. Es gehe um die «richtige Balance aus Humanität und Ordnung», und er verteidigte das Angebot Deutschlands, 25 Prozent der Geretteten aufzunehmen. Der EU-Machtbalance entsprechend müsste Frankreich den gleichen Teil aufnehmen, doch Paris zögerte, sich festzulegen. Momentan kommen wenige Boote an. Doch nicht nur auf Malta, 400 Kilometer von Libyens Küste entfernt, weiss man, dass sich dies schnell ändern kann.
Einige Stunden nachdem die Innenminister hinter den dicken Mauern verschwunden sind, tritt an der Seite der vier Minister der EU-Flüchtlingskommissar Dimitris Avramapolous ans Rednerpult. Er sei «hochzufrieden» mit dem Notfallmechanismus, auf den man sich einigen konnte. Seit einem Vierteljahr hätten die Fachleute der Ministerien verhandelt, nun habe man sich auf eine gemeinsame Position geeinigt. Konkrete Zahlen werden auf der Pressekonferenz nicht genannt. Der deutsche Innenminister sagt später, der Verteilungsschlüssel werde erst geklärt, wenn feststehe, wie viele EU-Staaten sich beteiligen. Die Sicherheitsprüfung solle «in vier Wochen» erfolgen, nachdem die Menschen an Land gekommen seien. Massnahmen im noch unveröffentlichten Papier sollen verhindern, dass Schlepper die neue Lösung missbrauchen.
Ein erster Schritt
Die Stimmung der Minister auf Malta sei prächtig, aber sie machten sich keine Illusionen darüber, dass ihr Vorschlag mehr als der erste Schritt beim Versuch sei, den Stillstand in der europäischen Migrationspolitik zu beenden, sagte Seehofer. Ernst wird es in zwei Wochen in Luxemburg. Dort kommen am 8. Oktober die EU-Innenminister zusammen. Im Grossherzogtum sollten dann möglichst viele ihre Teilnahme verkünden. Leicht werde die Überzeugungsarbeit nicht.
Dass zuletzt nur noch eine Kerngruppe um Deutschland, Frankreich, Portugal und Luxemburg bereit war, im Mittelmeer gestrandete Menschen aufzunehmen, hat mehrere Gründe: Vor der Europawahl im Mai wollten viele Regierungsparteien das strittige Thema Migration entweder verdrängen oder traten wie in Ungarn, Österreich oder Polen als Hardliner auf. Egal wie unwürdig und uneuropäisch es viele Bürger finden, dass die überfüllten Schiffe tagelang auf dem Mittelmeer kreuzen und darauf warten, einen Hafen ansteuern zu dürfen: Im Ernstfall kann die EU-Kommission nicht mehr tun, als per Telefon in den Hauptstädten um Aufnahme zu betteln. Der Ende 2018 gestartete Versuch der EU-Behörde, eine Zwischenlösung zu organisieren und einen Verteilungsplan mit klar festgelegten Schritten auszuarbeiten, wurde abgewehrt.
Verbreitete Skepsis
Blockiert wurde nicht nur von Mittel- und Osteuropäern: Vielen Regierungen ist bewusst, dass die Dublin-Asylregelung, wonach der Antrag nur im Ankunftsland gestellt werden darf, nicht mehr funktioniert. Aber die Sorge ist gross, dass eine Zustimmung zur Übergangslösung die Reform von Dublin vorwegnimmt. Ein ähnlicher Vorschlag der rumänischen Ratspräsidentschaft war im Juni verpufft: Spanien sah darin einen Anreiz zu mehr Migration, Griechenland und Zypern forderten Hilfe fürs östliche Mittelmeer, wo sich die Lage zuspitzt.
Andere Westeuropäer betrachteten im Vorfeld des Malta-Treffens die Gespräche mit enormer Skepsis: Diese Ad-hoc-Lösungen würden eine struk-turelle Reform verhindern, die längst überfällig sei. Nötig sei es auch, dafür zu sorgen, dass die betroffenen EU-Mitglieder im Süden die Migranten zuverlässig registrierten und Fingerabdrücke nähmen. Über diese und andere Fragen wird nun intensiv gesprochen werden. Innenminister Seehofer geht davon aus, dass sich «zwölf bis vierzehn Staaten» am Notfallmechanismus beteiligen würden. Dafür müssten auch die Regierungschefs werben.
Die Einigung in Malta ist nur ein erster Schritt. Vier EU-Staaten wollen nicht mehr darüber streiten, wer Flüchtlinge und Migranten aufnimmt, die im Mittelmeer von privaten Organisationen gerettet werden. Die Ankunftsländer Italien und Malta sowie die Zielländer Deutschland und Frankreich haben sich auf einen Schlüssel geeinigt, gemäss dem die Geretteten künftig nach der Ankunft der Boote schnell verteilt werden könnten. Dieser Notfallmechanismus funktioniert aber nur, wenn auch andere EU-Staaten und vielleicht sogar die Schweiz sich dieser «Koalition der Willigen» anschliessen.
Der Verteilschlüssel ist überfällig, um das zeitraubende und peinliche Gezerre um die Flüchtlingsboote zu beenden. In einem nächsten Schritt müssten die EU-Staaten auch ihre Operation zur Seenotrettung im Mittelmeer wieder aktivieren. Diese Aufgabe sollte die EU nicht privaten Organisationen überlassen.
Seenotrettung und Verteilschlüssel sind eine Selbstverständlichkeit. Die Notmassnahmen ersetzen aber noch keine Asyl- und Migrationspolitik, deren Reform innerhalb der EU seit Jahren blockiert ist. Was tun zum Beispiel angesichts von60 Prozent der Geretteten, die keinen Anspruch auf Asyl haben? Bei der Rückführung von abgewiesenen Asylbewerbern scheitern die EU-Staaten noch zu oft. Eine Initiative zur Stabilisierung des Transitlandes Libyen und der Staaten der Sahelzone müsste für die künftige Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ebenfalls höchste Priorität haben.
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