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Schwerstarbeiter in der Glitzerwelt
«Ihr seid doch verrückt!» – Das aufregende Leben eines Formel-1-Mechanikers

Camilo Zuercher, Alfa Romeo F1 Team Race Engineer.
Formula 1 World Championship, Rd 18, Qatar Grand Prix, Friday 6th October 2023. Doha, Qatar.
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Kommt das rot-schwarze Auto angebraust, schnellt der Puls von Camilo Zürcher in die Höhe. Er steht in der Boxengasse, den Schlagschrauber in der Hand, das linke Hinterrad ist seines. Das Auto wird in die Luft gehoben, er geht in die Knie, löst die Mutter, ein Kollege nimmt das Rad ab, ein anderer stülpt das neue drauf, der Schlagschrauber rotiert wieder, das Auto fällt runter – und rast davon. Willkommen im Leben eines Formel-1-Mechanikers.

Zürcher ist das beim Schweizer Sauber-Team, das derzeit als Alfa Romeo seine Runden dreht, seit über einem Jahrzehnt. Er sitzt im dritten Stock des Firmengebäudes in Hinwil. Und seine Augen glänzen, wenn er von seiner Arbeit erzählt. «Der Reifenwechsel ist wie ein Tanz», sagt der 43-Jährige, «jede Sequenz muss komplett in die andere passen.» Und das alles im Idealfall innert weniger Sekunden, der schnellste Boxenstopp in dieser Saison: 1,80 Sekunden, aufgestellt von McLaren beim letzten GP in Katar.

Es ginge gar noch schneller, doch Sensoren überprüfen zuerst, ob die Räder auch festsitzen, erst dann darf der Pilot wieder losfahren – alles in zwei Sekunden. Entsprechend spürt Zürcher das Adrenalin, wenn Fahrer Zhou Guanyu in die Boxengasse einbiegt. «Das hält mich auf dem Rennplatz am Leben. Während eines Grand Prix darf ich etwas abschrauben und wieder anschrauben am Auto. Entschuldigung, aber das ist geil.»

«Ich bin quasi unter einem Rennauto geboren.»

Camilo Zürcher, Mechaniker bei Sauber

Abschrauben und anschrauben als grosse Faszination: Wer nicht in dieser Welt lebt, versteht es kaum. Zürcher aber hat schon immer darin gelebt, er sagt: «Ich bin quasi unter einem Rennauto geboren.»

Als er klein ist, fährt sein Vater als Hobby Rallye und auf Rennstrecken. Der Sohn ist immer dabei, hilft beim Bauen und Flicken, sitzt selber im Kart, da ist er noch ein Bub, der in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá eine Schweizer Schule besucht. Sein Vater ist Schweizer und Maschinenmechaniker bei Sulzer in Winterthur, als dieser seine künftige Frau kennen lernt, eine Spanierin, und mit ihr nach Bogotá zieht, wo Camilo zur Welt kommt und bald von der ganz grossen Welt des Motorsports träumt.

Dort ist er längst angekommen. Wenn auch anders als geplant. Mechaniker, das war eigentlich nur sein Plan B. Plan A: selbst Rennfahrer werden. Einmal, 2005, da steht er an der Rennstrecke – und sieht seinen grossen Traum davonrasen.

Dann kommt der Papa mit dem Geldkoffer

Zürcher, der auch den Schweizer Pass besitzt, ist damals von Bogotá nach Europa gereist. In der Tasche: 3000 Euro. Er hofft, dass ihm irgendein Chef eines Rennteams eine Chance gibt. Doch die kommt und kommt nicht. Bald ist das Geld aufgebraucht, Zürcher wird beim Besitzer von Coloni vorstellig, einem einstigen Formel-1-Team, damals auf zweithöchster Stufe in der GP2 aktiv. Er zeigt ihm seinen Lebenslauf mit den vielen Stationen, die er als Pilot durchlaufen hat, im Kart, in Touring- und Formel-Wagen. Auch da drauf: das Diplom, das er in Kalifornien gemacht hat für die Arbeit als Mechaniker an Rennautos.

Der Chef von Coloni nimmt das Papier, zerknüllt es und wirft es in den Abfall. Er sagt: «In dieser Welt können alle gut schreiben und reden. Aber ich vertraue nur, wenn ich auch etwas sehe.» Er nimmt Zürcher in die Garage, in einer Kiste steht ein Chassis eines Formel-3-Wagens, der junge Mann soll ihn komplett revidieren und neu lackieren. Zürcher schraubt und bastelt, immer im Hinterkopf: Jetzt kommt die Möglichkeit, mit diesem Boliden über die Strecke zu rasen.

«Andere arbeiten, um zu leben. Ich lebe, um zu arbeiten.»

Camilo Zürcher

Den Traum lassen ein anderer junger Mann und dessen Vater platzen, die eines Tages mit einem Koffer voller Geld auftauchen und sich das Cockpit kaufen. Für Zürcher bleibt Plan B, er wird für den Jüngling Mechaniker, stellt die Sitzposition ein, die Pedalen, selber fahren darf er nie.

Zürcher wirkt leicht wehmütig, wenn er zurückdenkt. Dennoch ist seine Leidenschaft für den Sport auch so aus jedem seiner Worte herauszuhören, er sagt: «Ich bin süchtig nach Motorsport.» Und: «Andere arbeiten, um zu leben. Ich lebe, um zu arbeiten.» Wie soll es auch anders gehen?

Alfa Romeo F1 Team mechanic.
Formula 1 World Championship, Rd 18, Qatar Grand Prix, Friday 6th October 2023. Doha, Qatar.

Die Mechaniker der Königsklasse haben nichts mit dem Bling-Bling dieser Welt zu tun. Sie schleppen, schrauben, schwitzen, viele junge Kollegen geben nach kurzer Zeit auf: «Ihr seid doch verrückt!» Das Leben ist eines, das nur durchsteht, wer für diesen Sport lebt.

Eine Freundin hat er längst nicht mehr

Vielleicht 50 Tage im Jahr schlafe er zu Hause in seiner Wohnung in Wetzikon, fünf Minuten von der Fabrik seines Arbeitgebers entfernt. Eine Freundin hat Zürcher längst nicht mehr. Wenige Kollegen aber hätten gar Familie, das könne schon funktionieren, sagt er. Es sind Einzelfälle.

Das bisschen Freizeit nutzt er für Sport: «Zum einen ist unser Job sowohl mental als auch physisch sehr anstrengend. Zum anderen gibt mir Sport Energie; es ist nicht einfach, mit den vielen Jetlags in einer Saison umzugehen.»

Zu Hause wäscht er, macht Zahlungen so weit wie möglich im Voraus, damit der Kopf an der Rennstrecke wieder frei ist. Dazwischen geht er in die Firma, begutachtet neu entwickelte Teile, bespricht sich mit Ingenieuren, trainiert Boxenstopps oder fährt ins nahe Fitnesscenter – die Mechaniker in Hinwil bekommen von ihrem Arbeitgeber eine Jahreskarte geschenkt.

Und sonst, an den restlichen über 300 Tagen im Jahr? Packt er ein, packt er aus, checkt er ein, checkt er aus, schraubt er an, schraubt er ab. 22 Rennen sind es in diesem Jahr, im nächsten sollen es 24 werden. Hinzu kommen Tests und Showfahrten. Und Zürcher ist immer dabei.

Das Auto? Ein einziges Puzzle

Vor den Rennwochenende reist er mit seinen Kollegen schon am Dienstag an die Strecke, um die Garage einzurichten, ab Mittwoch werden die Autos zusammengebaut. Sie kommen keineswegs im Ganzen an, bei Überseerennen zerlegen sie Zürcher und sein Team für den Transport mit dem Flugzeug noch etwas mehr als in Europa. Einzig das Chassis bleibt ganz.

Kühler, Querlenker, Motor, Getriebe, Aufhängung, alles muss Mal für Mal neu verschraubt und verbaut werden. Je acht Männer arbeiten an den Alfa Romeos von Zhou Guanyu und Valtteri Bottas. Zürcher ist für den Wagen des Chinesen verantwortlich, der seit 2022 für den Schweizer Rennstall fährt. Es geht dabei um Präzision, um Millimeter, «um Qualität und Sauberkeit», sagt Zürcher. «Am Schluss muss es so dastehen, dass auch ich es gern fahren würde.»

Jedes Teil, das sie verbauen müssen, trägt eine Seriennummer, je nach gefahrenen Kilometern kommt das eine oder das andere zum Einsatz. «Wir kriegen von allen Abteilungen eine Liste» – von der Aerodynamik- über die Design- bis zur Elektronikabteilung.

Alfa Romeo F1 Team mechanic.
Formula 1 World Championship, Rd 18, Qatar Grand Prix, Friday 6th October 2023. Doha, Qatar.

Jedes Teil muss das richtige sein, jeder Griff muss sitzen, Fehler sind in diesem Business der horrenden Geschwindigkeiten nicht erlaubt. «Der Fahrer muss uns zu 100 Prozent vertrauen können.»

Ist das Rennen vorbei, geht es ans Zerlegen, bis in die Nacht hinein arbeiten sie da, um 3, 4 Uhr am Montagmorgen sind sie fertig mit der Arbeit, dann gehts gleich per Flugzeug an den nächsten Rennort – oder vielleicht auch einmal nach Hause.

Willkommene Zwangspausen, aber …

Mittlerweile gibt es immerhin eine kurze Sperrstunde an der Rennstrecke, von 22 bis 11 Uhr dürfen sie die Wagen nicht anfassen. Die Zwangspausen, die in den Nächten der Rennwoche gelten, begrüsst Zürcher zwar, dafür machen sie die Arbeitszeit stressiger. «Früher konnten Rennställe im Rotationsprinzip und 24 Stunden am Tag an den Rennwagen arbeiten. Heute haben wir weniger Zeit, um das Gleiche zu erledigen. Gibt es ein Problem, gibt es ein Leck, ist der Druck gross, denn die Uhr stoppt niemals.»

Zuletzt in Katar sei es besonders hart gewesen. Es war glühend heiss, «wir kamen aus dem Hotel und waren schon nassgeschwitzt. Wir müssen richtig fit sein, wir bewegen uns den ganzen Tag, es ist körperlich anstrengend – und doch müssen wir einen kühlen Kopf bewahren.»

Kaum einer beneidet die Mechaniker um ihre Arbeit. Wenigstens hätten die Rennställe mittlerweile erkannt, wie wichtig sie und ihre körperliche und mentale Fitness seien. So schlafen die Mechaniker von Alfa Romeo seit dieser Saison während der Rennwochen in den Hotels in Einzelzimmern. Es hilft, Ruhe und Konzentration zu finden.

Kaum einer in einem Formel-1-Team benötigt diese so sehr wie die Männer, die für die Zuschauer unsichtbar sind. Solange sie keinen Fehler machen.