Organisation in der KriseSchweizer Tierschutz droht erneute Eskalation
Nach der Abwahl der Chefin sollte Schluss sein mit autoritärem Gebaren und Intransparenz. Doch Kritiker trauen dem Versprechen nicht. Sie wollen den Wandel erzwingen – notfalls mit juristischen Mitteln.

Am Ende wurde Nicole Ruch nicht nur abgewählt, sondern unter Buhrufen aus dem Amt geschrien. Die Delegierten des Schweizer Tierschutzes (STS) sahen darin das einzige Mittel, um ihre Präsidentin zum Einlenken zu bewegen. Die fünffache Hundebesitzerin aus Biel war monatelang in der Kritik gestanden: Zu hohe Spesenbezüge, autoritäres Verhalten, Intransparenz, Unfähigkeit und einiges mehr warf man ihr vor. Anschuldigungen, die sie alle vehement bestreitet.
Wenige Tage nach den dramatischen Ereignissen rund um die Delegiertenversammlung des Schweizer Tierschutzes (STS) vom 27. Januar sitzt die abgesetzte Präsidentin vor einem Blatt mit Notizen. Sie ist nicht hier, um über Fehler zu sprechen. Nicole Ruch, beruflich Bankerin, möchte über ihre Pläne sprechen, die sie für den Schweizer Tierschutz noch gehabt hätte. «Ich bin nicht gescheitert», sagt sie und lächelt. «In den nächsten zwei Jahren hätte ich aus dem STS ein richtiges Bijou gemacht.» Sie habe die Digitalisierung vorangetrieben und die Organisation transparenter gemacht, sagt die Bielerin.
Das sehen ihre Kritiker anders. Der Reputationsschaden, der während Ruchs kurzer, gut zweijähriger Amtszeit als oberste Schweizer Tierschützerin entstand, ist gross. Sie hinterlässt dem Tierschutz zwei juristische Verfahren, die das Potenzial haben, den bereits tief gespaltenen Dachverband weiter zu destabilisieren.
Juristische Druckmittel
Recherchen dieser Redaktion zeigen, dass in Basel nach wie vor ein Gerichtsverfahren läuft, zum Streit um die Traktanden der Delegiertenversammlung von Ende Januar. Nun dient es den Urhebern als eine Art Pfand: «Gibt es zeitnah keine Findungskommission, die bis spätestens im Herbst neue Kandidatinnen und Kandidaten für das Präsidium und einen unbelasteten, neuen Zentralvorstand präsentiert, können wir dies auf juristischem Weg erzwingen», sagt Beatrice Kirn, die Geschäftsführerin des Vereins Tierschutz beider Basel. Man habe mehrere grosse Sektionen hinter sich.
Im vergangenen Juni reichten zwei mittlerweile ebenfalls abgewählte Vorstandsmitglieder Strafanzeige gegen Ruch sowie weitere aktive und ehemalige Tierschutz-Vorstandsmitglieder ein. Der Verdacht: ungetreue Geschäftsführung bei der Immobilienbewirtschaftung. Der STS besitzt verschiedene Immobilien, die er teilweise von Spenderinnen und Spendern geerbt hat. Gewisse Immobilien wurden verkauft, andere renoviert oder vermietet. Unter anderem hegen die Kritiker den Verdacht, dass gespendete Liegenschaften unter Wert verkauft worden seien. Nicole Ruch bestreitet die Vorwürfe. Das polizeiliche Ermittlungsverfahren läuft, es gilt die Unschuldsvermutung. Doch für eine Organisation, die vor allem vom Vertrauen ihrer Spender lebt, sind selbst vage Verdachtsmomente verheerend.
Der Dachverband mit rund 70 Sektionen befindet sich in der grössten Krise seiner Geschichte. Dass Nicole Ruch sich bis heute weigert, Fehler einzugestehen, treibt ihre Kritiker zur Weissglut. Doch in mindestens einem Punkt liegt sie nicht falsch. Das Problem des Schweizer Tierschutzes geht über sie hinaus. Ihr Drama ist symptomatisch für veraltete Strukturen und eine Führungskultur, die die Non-Profit-Organisation schon seit 30 Jahren von ihrer eigentlichen Arbeit ablenken.
Fast immer gings ums Geld
Wer sich fragt, wie es so weit kommen konnte, muss in die 1990er-Jahre zurückblicken. Schon damals war der Zentralvorstand zerstritten. Schon damals gab es Berichte über überrissene Spesen, autoritäres Gebaren der Spitze und intransparente Führungsstrukturen. Fast immer drehten sich die Konflikte innerhalb der Non-Profit-Organisation, die sich dem Wohl der Tiere verschrieben hat, um Geld. Die Organisation verfügt über ein Vermögen von aktuell rund 37 Millionen Franken, und sie beschäftigt 80 Angestellte.
Im Zentrum der Kritik: die damalige Präsidentin Marianne Staub. Eine charismatische, engagierte Tierschützerin aus Thun, die gegen aussen erfolgreich für das Wohl der Tiere lobbyierte. Und intern mit Querelen zu kämpfen hatte. Ende 2000 kündigte Staub ihren Rücktritt an.
Im Juni 2001 sollte für den Schweizer Tierschutz eine neue Ära beginnen. Ihr Nachfolger Heinz Lienhard blieb 20 Jahre lang Präsident, bis er 85 Jahre alt war. In der Öffentlichkeit wurde es ruhiger, das Vermögen des STS wuchs dank Spenden, Erbschaften und Legaten. Dazu kamen politische Erfolge: Ferkelkastration nur noch mit Betäubung, ein Importverbot für Katzen-, Hunde- und Robbenfelle oder dass der Transport von Tieren in den Schlachthof nur noch sechs Stunden dauern darf.
Wie ein Patriarch
Doch der gelernte Kaufmann Lienhard, so erzählen es Weggefährten, habe den STS wie ein Patriarch geführt: mit grossem persönlichem Einsatz und harter Hand. Widerspruch duldete er nicht. Auch nicht zur Rolle seiner Frau. Odile Lienhard sass ebenfalls im Zentralvorstand des STS und war für die Finanzen zuständig. Namhafte Mitglieder warnten vor dem familiären Klüngel. Dieser schade dem Image der Organisation. Doch die Einwände verhallten.
An Lienhards Führungsstil erinnert man sich beispielsweise in Basel gut. «Mangelnde Transparenz war schon immer ein Thema», sagt Beatrice Kirn. Die Basler legten sich vor einigen Jahren mit STS-Präsident Lienhard an – sie verlangten eine lückenlose Darstellung der Finanzen und kritisierten fehlendes Durchsetzungsvermögen des Tierschutzes beim Thema Tierversuche. «Plötzlich erhielten wir keine finanziellen Beiträge mehr von der Zentrale», erinnert sich Kirn. «Da es trotz unserer Bemühungen nie ein klärendes Gespräch gab, nahmen wir an, dass die Streichung des jährlichen Unterstützungsbeitrags eine Reaktion auf unsere Kritik war.» Erst Ruch habe diesen Zahlungsstopp aufgehoben.
Weder Lienhard noch Marianne Staub wollten sich auf Anfrage äussern. In einem Interview mit der NZZ wies Lienhard kürzlich sämtliche Vorwürfe zurück: «Intransparent war unter meiner Präsidentschaft weder das Geschäftsgebaren noch der Finanzhaushalt des STS.» Seine Nachfolgerin Ruch bezeichnet er heute als «unfähig».
Interessenkonflikte und heikle Doppelrollen
Dabei war Nicole Ruch im STS einst so etwas wie Lienhards Kronprinzessin. Sie verstand sich gut mit Lienhard, und ihr Finanzwissen überzeugte ihn. Und so wurde Nicole Ruch im November 2021 zur neuen STS-Präsidentin gewählt.
Interessenkonflikte und heikle Doppelrollen ziehen sich wie ein roter Faden durch die letzten 30 Jahre Tierschutz-Geschichte: So sitzt heute noch eine Person im Zentralvorstand, die daneben als Tierfilmerin für den STS arbeitet und dafür bezahlt wird. Ein anderes Vorstandsmitglied kümmerte sich bis vor wenigen Monaten um die Immobilienbewirtschaftung des STS. Gleichzeitig verkaufte derselbe Mann Immobilien im Auftrag des STS und wurde dafür entschädigt. Er ist mittlerweile aus dem Vorstand zurückgetreten.
Georg von Schnurbein ist Professor für Stiftungsmanagement an der Universität Basel. Er hat die Geschehnisse um den STS aus der Ferne verfolgt. Solche Doppelrollen seien heikel, aber nicht grundsätzlich verboten, sagt er. «Doch wenn ein Vorstandsmitglied auch finanzielle Vorteile hat, braucht es sehr klare Regeln.» Zudem sollten solche Interessenkonflikte nicht dauerhaft bestehen.
Dass der Konflikt beim STS derart eskalierte, erstaunt den Professor nicht. «Die Zeiten, in denen eine grosse Non-Profit-Organisation von einem Ehepaar zwar mit viel Idealismus, aber wenig professionellen Strukturen erfolgreich geführt werden kann, sind vorbei», sagt er. Die Erwartungen hätten sich geändert, gerade auch von Spenderinnen und Spendern. Für die Führung eines mittelgrossen Unternehmens, wie es der STS sei, brauche es gut ausgebildete Fachleute. «Von aussen gesehen ist beim STS klar: Bereits in der Vergangenheit sind Versäumnisse passiert, die nun nachwirken. Lange war eine starke Person Präsident. Kommt es nach 20 Jahren zu einem Führungswechsel, sorgt das für Unruhe und Verunsicherung.»
Neuanfang mit Tücken
Tatsächlich geht auch die Geschichte, die Nicole Ruch dieser Tage erzählt, so ähnlich. Sie sagt: «Ich wäre die Brücke gewesen zwischen Alt und Neu.» Was genau diese Brücke zum Einsturz brachte, darüber gibt es allerdings unterschiedliche Ansichten. Ruch habe Modernisierungsvorschläge abgeblockt und Verfehlungen aus der Vergangenheit weder offenlegen noch bereinigen wollen, sagen ihre Kritiker. Niemand habe Einsicht in alle wichtigen Geschäftszahlen erhalten. Zwei Vorstandsmitglieder, die neue Ideen einbringen wollten, traten nach wenigen Monaten wieder zurück. Aus der Sicht Ruchs waren es hingegen die Strafanzeige und die in den Medien ausgetragene Auseinandersetzung, die am Ende alles sprengten. Die Vorwürfe weist sie zurück.
Nun stünden die Zeichen auf Neuanfang, heisst es beim STS. Seit zwei Wochen führt ein neu gewählter Präsident den Dachverband. Es ist der Tessiner Anwalt Piero Mazzoleni, und er verspricht mehr Transparenz, unter anderem bei der Jahresrechnung. Der STS sucht zudem gemäss eigenen Angaben professionelles Führungspersonal. Und die Bewirtschaftung der Immobilien übernimmt neu eine andere, unabhängige Firma.
Das alles klingt gut, und doch gibt es einen kleinen Schönheitsfehler: Piero Mazzoleni ist nicht wirklich neu. Er wurde unter Heinz Lienhard in den Vorstand gewählt, seit 2020 amtet er als Vizepräsident. Er hat versprochen, er wolle ein Übergangspräsident sein und er werde dem Vorstand eine Findungskommission für ein neues Präsidium vorschlagen. Auf Anfrage kann er keinen genauen Zeitrahmen nennen. «So etwas braucht Zeit», sagt er. Machen die Basler und ihre Verbündeten Ernst, bleiben ihm genau sechs Monate.
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