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Schuldenbremse in der Schweiz
Erleben wir nun, da das Geld knapp wird, gerade das Ende einer Ära?

Für die Finanzministerin ist sie «eine gute Freundin».

Für den Geschäftsführer des liberalen Wirtschaftsinstituts «eine Wohltat und ein Segen».

Und der bürgerliche Parteipräsident nennt sie schlicht «identitätsstiftend».

Wäre die Schuldenbremse nicht nur ein Konzept, sondern, sagen wir, ein Gegenstand oder ein Mensch – sie stünde schon längst vergoldet als Denkmal vor dem Bundeshaus. Lang lebe die Schuldenbremse!

Erfunden in einer schlaflosen Nacht

Erfunden wurde dieses sehr schweizerische Instrument mit dem sehr schweizerischen Namen vor zwei Jahrzehnten von Kaspar Villiger, dem ehemaligen freisinnigen Finanzminister und späteren UBS-Verwaltungsratspräsidenten. In den diversen Schriften, Veranstaltungen und Partys zum 20-Jahr-Jubiläum zeichnete Villiger im Herbst 2023 nach, wie er nach einer schlaflosen Nacht die Schuldenbremse skizzierte und bald darauf auch umsetzte.

Damals, Ende der 1990er-Jahre, war die finanzielle Lage des Bundes schwierig. Prekär sogar. Die Schulden explodierten, von 1990 bis 1996 (es war Rezession) verdoppelten sie sich, bis 2003 waren sie aufs Dreifache angewachsen. Er könne sich an so manche Budgetsitzung erinnern, sagt Villiger. Sitzungen, in denen man bis tief in die Nacht um jeden Posten stritt. «Das waren damals nicht einfach Defizite. Das waren strukturelle Defizite!», sagt Villiger.

Bundesrat Kaspar Villiger, links, unterhaelt sich mit FDP Praesident Gerold Buehrer waehrend der Debatte ueber die Schuldenbremse am Montag, 18. Juni 2001 im Nationalrat in Bern. (KEYSTONE/Lukas Lehmann) === ELECTRONIC IMAGE ===

Sein Ziel: Die Schulden stabilisieren. «Und es gelang.» Nach der überdeutlichen Zustimmung durch die Bevölkerung im Dezember 2001 und ihrer Einführung zwei Jahre später, ging die Schuldenquote des Bundes rasant nach unten: von 26 Prozent des Bruttoinlandprodukts bis auf 17 Prozent. In absoluten Zahlen: von 124 Milliarden Franken Schulden 2003 bis auf 97 Milliarden kurz vor der Pandemie. Villiger: «Mit dieser Differenz war die Schweiz in der Lage, Corona zu stemmen.»

Die Zahlen sind deutlich, die Erzählung unter bürgerlichen Politikern ist eindeutig: Die Schuldenbremse ist ein Erfolg. «Dafür sind wir dir ewig dankbar, Kaspar», sagte René Scheu, der Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik in Luzern, als er an der 20-Jahr-Feier für die Schuldenbremse im vergangenen November den Hauptredner Kaspar Villiger vorstellte. «Für manche ist es die grosse Spassbremse. Für uns ist sie eine Wohltat und ein Segen.»

Das Selbstverständnis der bürgerlichen Schweiz

In der relativ kurzen Zeit ihrer Existenz hat sie sich die Schuldenbremse tief ins Selbstverständnis der bürgerlichen Schweiz gegraben. Der anscheinend simple Grundsatz, nicht mehr auszugeben, als dass man einnimmt, ist die perfekte Entsprechung des protestantisch-freisinnigen Selbstbilds. Hart arbeiten, sparsam leben. Villiger drückte es in seiner Rede so aus: Er habe in seinem Leben immer das Privileg gehabt, mit super Teams zu arbeiten. Teams, die wussten, dass bei der berühmten Work-Life-Balance die Betonung auf dem Wort «Work» liege.

Von nichts kommt nichts. Und gegen den Überschwang hilft die Schuldenbremse, eine mathematische Formel von berückender Einfachheit: E x k = A.

Mit dieser Formel ist im Finanzdepartement seit Villigers Zeiten die Buchhaltungssoftware programmiert. Jedes Jahr wird die Formel mit Zahlen gefüttert: zuerst mit «E», den geschätzten Einnahmen, dann mit «k», dem Konjunkturfaktor. Dieser sorgt dafür, dass die Schuldenbremse nicht zu starr ist, sondern dass der Staat in einer Rezession gewisse Defizite machen darf, sie aber in besseren Jahren sofort wieder kompensiert.

Als Ergebnis spuckt der Rechner «A» aus, die wichtigste Zahl in der Schweizer Politik überhaupt. «A» steht für die maximalen Ausgaben, die der Bund im neuen Budgetjahr tätigen darf.

So einfach ist das Grundprinzip. Doch im Kleingedruckten, festgehalten im Finanzhaushaltgesetz, wurde die Schuldenbremse von ihren freisinnigen Erfindern derart rigide konzipiert, dass sie die Schulden nicht nur stabilisiert – sondern stetig abbaut. 

Dieser Mechanismus wird seit Erfindung der Schuldenbremse immer wieder kritisiert. Doch bisher waren alle Reformvorschläge chancenlos. Jeder bürgerliche Politiker, der auch nur schon über eine mögliche Reform nachdachte, musste mit der Exkommunikation rechnen.

Jetzt kritisieren auch Bürgerliche das Instrument

Bis heute. Doch nun bewegt sich etwas, wie auch den Festrednern zum Jubiläum der Schuldenbremse auffiel. Er habe den Eindruck, die alten Geister würden sich wieder regen, sagte Kaspar Villiger. Er sehe neue Fantasien, wie zur Befriedigung von «partikular-egoistischen Wünschen» die Schuldenbremse umgangen werden könne.

Links ist das nichts Neues. SP, Grüne und Gewerkschaften kritisieren die Schuldenbremse seit ihrer Einführung. Eine «ideologische Schönwetterlösung» nannte sie SP-Co-Präsident Cédric Wermuth kürzlich auf Radio SRF. Er prognostizierte, dass die Schuldenbremse schon bald zu grossen Problemen führen werde – «und zwar nicht nur für uns Linke». Denn auch die Landwirtschaft, die Bildung oder die Armee – wichtige Anliegen der Bürgerlichen – liefen in Finanzierungsprobleme hinein.

Tatsächlich leiden neuerdings auch bürgerliche Politiker an der Schuldenbremse. Seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges wollen sie die Armee möglichst rasch kriegstauglich machen. Doch das Tempo dieser Wiederaufrüstung wird durch die Schuldenbremse stark eingeschränkt.

Darum ist die Schuldenbremse in der Frühjahrssession ein grosses Thema in vielen Gesprächen unter bürgerlichen Finanz- und Sicherheitspolitikern – erst recht, nachdem die Annahme der 13. AHV-Rente den Finanzengpass zusätzlich verschärft hat.

Noch laufen die Gespräche, noch gibt es keinen fertigen Plan. Aber immer mehr Bürgerliche wagen, das bisher Undenkbare auszusprechen: entweder eine Aufweichung der Schuldenbremse. Oder eine Finanzierung der Armeeausgaben an der Schuldenbremse vorbei. 

Wer die Schuldenbremse aufweichen will, um Geld für die Armee zu mobilisieren, hat drei Möglichkeiten:

  1. Ihr Grundprinzip wird abgeschwächt. So weit geht bisher kaum jemand im bürgerlichen Lager.

  2. Das Kleingedruckte auf Gesetzesstufe wird aufgeweicht, sodass die Schuldenbremse weniger hart bremst.

  3. Die Armeeausgaben werden an der Schuldenbremse vorbeigeschleust.

Einer der Ersten, die das Tabu brachen, war der Berner SVP-Ständerat Werner Salzmann. In einer Motion forderte Salzmann schon letztes Jahr die Option 3, das heisst: die Armeeausgaben als «ausserordentliche Ausgaben» zu verbuchen und so der Schuldenbremse zu entziehen. Solche Buchhaltungsmanöver sind in Krisensituationen erlaubt – aber nur, wenn die Schweiz mit «nicht steuerbaren Entwicklungen» konfrontiert ist.

Auf diesen Ausnahmeparagrafen berief sich der Bund bei den Corona-Hilfspaketen sowie bei den Bundesgeldern für die Ukraine-Flüchtlinge. Doch bei den Armeekosten wehrt sich Finanzministerin Karin Keller-Sutter vehement gegen eine ausserordentliche Verbuchung.

Staenderat Werner Salzmann, SVP-BE, arbeitet an seinem Laptop an der Sommersession der Eidgenoessischen Raete, am Dienstag, 14. Juni 2022, in Bern. (KEYSTONE/Peter Schneider)

Das sei völlig inkonsequent, kritisiert Salzmann. Immerhin werde die Aufrüstung der Armee wegen des gleichen Kriegs nötig, der auch die Ukrainerinnen und Ukrainer in die Flucht getrieben habe. Trotzdem sah sich Salzmann im Dezember 2023 gezwungen, seinen Vorstoss zurückzuziehen. Es hätten ihm im Ständerat nur die Linken zugestimmt, im bürgerlichen Lager war die Zeit nicht reif dafür.

Noch nicht.

Denn seither hat Salzmanns Idee an Boden gewonnen. Mitte-Ständerätin Andrea Gmür, Präsidentin der Sicherheitspolitischen Kommission, plädiert dafür, die Armeeausgaben «vorübergehend» ausserordentlich zu verbuchen – um so die Rüstungslücken rasch zu schliessen. Die höheren Schulden, die dies verursachen würde, könnten später zurückbezahlt werden – falls man zuerst nach einer Gegenfinanzierung suche, würde das zu viel Zeit benötigen.

Mitte-Nationalrat Reto Nause denkt in eine ähnliche Richtung. In einer  Interpellation, die er diese Woche einreichte, fragt er den Bundesrat, warum er die im Gesetz vorgesehene Möglichkeit einer «ausserordentlichen Verbuchung» ausgerechnet für die Armee nicht nutze. Und weiter: «Warum gewichtet der Bundesrat die Schuldenbremse höher als andere verfassungsmässige Aufgaben wie die Landesverteidigung oder den Schutz der Bevölkerung?»

Gerhard Pfister, der Präsident der Mitte Partei, geht sogar noch einen Schritt weiter. Er fragt sich ganz grundsätzlich, ob die Fixierung auf die Schuldenbremse sinnvoll ist – und ob nicht der Blick auf die reale Schuldenquote sinnvoller wäre. «Aber ich bin mir völlig bewusst, dass solche Ideen nicht mehrheitsfähig sind. Der Leidensdruck ist noch zu wenig hoch.» 

Support finden diese Politikerinnen und Politiker aus der Mitte und der SVP bei Ökonomen, die nicht die Schuldenbremse an sich, aber ihre konkrete Ausgestaltung schon lange kritisieren. Die meisten Ökonomen würden bei der Bewertung einer Staatsschuld die Schuldenquote anschauen, also das Verhältnis von Staatsschuld und Wirtschaftskraft eines Landes, sagt Marius Brülhart, Wirtschaftsprofessor an der Universität Lausanne. Die Schweizer Schuldenbremse fokussiere dagegen auf den nominalen Schuldenstand. Und obendrauf habe der Gesetzgeber bei der konkreten Ausgestaltung der Schuldenbremse im Gesetz «übersteuert».

Die Parteipraesidenten der SP, Cedric Wermuth, SP-AG, links, und der Mitte, Gerhard Pfister, Mitte-ZG, diskutieren an der Fruehjahrssession der Eidgenoessischen Raete, am Mittwoch, 6. Maerz 2024 im Nationalrat in Bern. (KEYSTONE/Alessandro della Valle)

Es gebe zwar keine allgemeine Regel, wie viel Schulden ein Staat machen dürfe, sagt  Brülhart. «Sicher aber ist: Die Schweiz ist meilenweit weg von einem problematischen Schuldenniveau.» Derzeit beträgt diese Bruttoschuldenquote beim Bund rund 15 Prozent und rund 30 Prozent, wenn man die Schulden von Kantonen und Gemeinden mitzählt. In den Ländern der Eurozone liegt die Schuldenquote durchschnittlich bei über 90 Prozent.

Die FDP bleibt hart

Cédric Wermuth, Co-Präsident der SP Schweiz, beobachtet die rhetorische Bewegung im bürgerlichen Lager interessiert. «Das Bewusstsein, dass wir hier in den nächsten Jahren etwas verändern müssen, ist relativ gross», konstatierte er im Radiointerview. Wermuth selber plädiert für die Option 2, also eine Reform des Kleingedruckten, wie er unlängst in einem Gastbeitrag zusammen mit Nationalrätin Sarah Wyss darlegte. Die beiden möchten die Schuldenbremse derart reformieren, dass die Budgetüberschüsse nicht mehr wie heute automatisch in den Abbau der Schulden fliessen. Eine bisher chancenlose Idee, von Linken vorgebracht. Aber eine Idee, die plötzlich gar nicht mehr so abwegig scheint.

Nur bei der FDP, da bleibt man hart. Finanzministerin Karin Keller-Sutter hat in den letzten Wochen mehrfach betont, dass die Schuldenbremse für sie sakrosankt sei. Und auch ihr Parteipräsident Thierry Burkart weicht kein My von ihr ab. «Sie ist nicht nur identitätsstiftend. Sie garantiert auch den Handlungsspielraum für spätere Generationen und Krisenfälle.» 

Dass die Schuldenbremse Investitionen verhindern kann und die Finanzierung – beispielsweise der Armee – erschwert, davon will Burkart nichts hören. Nach dem Ja zur 13. AHV-Rente habe sich die Situation allerdings noch einmal stark verändert. Darum brauche es Einsparungen an verschiedenen Orten. Nun zieht er ein zusammengefaltetes A4-Blatt mit einer Liste aus der Innentasche seines Vestons. Filmförderung: 43 Millionen Franken. Zustellungsvergünstigungen: 50 Millionen Franken. Und, und, und. «Da hat es noch viele Punkte drauf. Auch Kleinvieh macht Mist!» 

Kein Sparvorschlag ist für Burkart zu gering oder zu abwegig, um die Schuldenbremse zu retten. Die «gute Freundin», sie soll noch etwas bleiben.

In der ersten Version des Artikels war der Name von René Scheu falsch geschrieben. Wir entschuldigen uns für den Fehler!