Euro 2024Diese Schweizer im EM-Final? Aber natürlich!
Das Nationalteam hat alles, um zur grossen Überraschung dieser Europameisterschaft zu werden. Ausser einen Stürmer. Aber wer braucht den schon?

Am Freitag war diese Zeitung etwas miesepetrig unterwegs. «Warum die Schweiz keinen Exploit schafft», schrieb sie in ihrer Printausgabe in grossen Buchstaben über ihre Tipps zur Europameisterschaft. Wenn das Ihrer EM-Vorfreude einen kleinen Schlag verpasst hat, sollten Sie eines bedenken: Solche Prognosen sind höchstens bedingt ernst zu nehmen.
Autor Janosch hat es im Magazin der «Zeit» einmal sehr schön analysiert. Nach einer «sicheren Methode» für die Vorhersage von Fussballergebnissen gefragt, antwortete er: «Man schaut sich die Übertragung im Fernsehen an und tippt kurz nach Spielende. Dann hat man einen guten Eindruck von der Stärke der Mannschaften.»
Die Wahrheit über die aktuelle Ausgabe der Schweizer Nationalmannschaft lautet vor dem Anpfiff schlicht: Es ist ihr alles zuzutrauen. Ein tristes Scheitern in der Gruppenphase. Oder das in diesem Land inzwischen schon als langweilig verpönte Aus im Achtelfinal.
Wobei es dazu schon noch einen kleinen Einschub zur Einordnung verträgt: Von allen Ländern Europas sind exakt zwei an den letzten fünf grossen Turnieren im Männerfussball (WM und EM) immer mindestens unter die letzten 16 gekommen. Frankreich und … die Schweiz. Das ist für ein Land von dieser Grösse schlicht aussergewöhnlich.
Ganz viele Elemente, die in einem Turnier wichtig sind
Aber warum soll es diesmal nach dem Achtelfinal nicht noch so richtig weitergehen? Diese Schweizer im EM-Final? Aber natürlich! Ja, die Qualifikation war faszinierend schlecht. Nein, die Testspiele danach haben auch nicht für landesweite Euphorie gesorgt. Und doch besitzt diese Mannschaft ganz objektiv betrachtet ganz viele Elemente, die nötig sind, um an einem Turnier weit zu kommen.
Da ist zuallererst die stabile Defensive. Murat Yakin hat nach all den lustigen Gegentoren gegen Underdogs wie Belarus, Kosovo oder Israel umgestellt. Der Nationaltrainer lässt jetzt mit drei Innenverteidigern spielen, dazu kommen links und rechts Flügel, die daraus bei Bedarf eine Fünferabwehr machen. Davor noch zwei defensive Mittelfeldspieler, dann hat man schon mal sieben Schweizer, die dem Gegner das Angriffsspiel vermiesen.
In dieser Formation hat Yakins Team in seinen letzten vier Spielen bloss noch ein Gegentor erhalten.
Drei Meister aus drei grossen Ligen
Natürlich hilft es, wenn dann auch noch drei dieser Spieler in grossen Ligen Meister geworden sind. Mit so vielen Meriten ist noch nie ein Schweizer Nationalteam in ein grosses Turnier gestartet.
Yann Sommer muss nicht wie vor der WM 2022 erst eine Verletzung auskurieren. Der Goalie kommt nach einer starken Saison für Inter Mailand als italienischer Meister. Abwehrchef Manuel Akanji hat mit Manchester City die englische Liga gewonnen.
Und dann ist da natürlich er: Granit Xhaka, deutscher Meister und Cupsieger mit Leverkusen. Captain, Leitwolf, Vorbild, Wortführer und gar nicht so ungern bisweilen auch Reizfigur.
Xhaka hat auf dem Platz exakt die Fähigkeiten, die es an dieser Euro ganz besonders braucht. Es sind die gleichen, die den deutschen Bundestrainer Julian Nagelsmann dazu gebracht haben, den eigentlich schon zurückgetretenen Toni Kroos für ein letztes Halali aufzubieten.
Granit Xhaka ist der Schweizer Toni Kroos
Die «Süddeutsche» erklärt derzeit auf ihrer Website, was Kroos so wichtig macht für das deutsche Nationalteam. Es geht da zum Beispiel um ganz viele kleine, scheinbar völlig belanglose Pässe über vier, fünf Meter. Oft wird der Ball sogar einfach wieder zurück an den Absender geschickt. Es sind genau solche Bälle, die auch Xhaka immer wieder spielt.
Was wie sinnbefreites Ballgeschiebe aussieht, verunmöglicht dem Gegner, Druck auszuüben, und verhindert frühe Ballverluste. Stefan Reinartz, Ex-Bundesligaspieler und Geschäftsführer einer Analysefirma, erklärt es so: «Pressing braucht immer ein klares Ziel. Wie ein Schwarm, der sich auf einen Punkt zubewegt.»
Ideal für pressende Teams sind gegnerische Pässe über 15 Meter. Wird der Ball dagegen ständig über geringere Distanzen hin und her bewegt, muss das Pressing irgendwann abgeblasen werden. Und die Schweiz kommt danach praktisch gratis in die gegnerische Platzhälfte.
Wer soll denn bitte schön die Tore schiessen?
Sie halten also hinten die Null. Sie können sich dank Xhaka aus dem gegnerischen Pressing lösen, das an dieser EM kommen wird wie das Amen in der Kirche, weil fast alle kleinen bis mittelgrossen Teams damit operieren. Und dann? Ja, dann fehlt den Schweizern da vorne tatsächlich der Angreifer, der für vier, fünf Tore an einem Turnier gut ist.
Breel Embolo ist erstens kein Goalgetter. Und er kommt zweitens gerade aus einer Muskelverletzung zurück. Der kurz vor knapp aufgebotene Steven Zuber leidet an einer Wadenzerrung. Ruben Vargas schiesst alle sechs Länderspiele mal ein Tor. Und Zeki Amdouni hat zwar in 15 Einsätzen beeindruckende 7 Treffer erzielt. Bloss war das jeweils gegen Gegner aus dem unteren Bereich der Weltrangliste.
Das grosse, kleine Vorbild Kroatien
Aber wer hinten keine Tore bekommt, braucht vorne auch nicht viele, um zu gewinnen. Oder um schlicht nicht zu verlieren. Das kann nämlich schon reichen. Mit Kroatien hat ein Land mit nicht einmal halb so vielen Einwohnern wie die Schweiz an den letzten beiden Weltmeisterschaften zweimal den Halbfinal und einmal sogar das Endspiel erreicht.
Funfact: An diesen beiden Turnieren haben die Kroaten kein einziges ihrer Spiele in den K.-o.-Runden nach 90 Minuten gewonnen. Auf dieselbe Art hat die Schweiz an der letzten Euro 2021 an die Tür zum Halbfinal geklopft. Mit zwei hinreissenden Unentschieden gegen Frankreich und Spanien. Und den folgenden Penaltyschiessen, von denen halt nur eines gewonnen wurde. (Dafür was für eins!)
Hinten dichthalten. Vorne auf die Dribblings von Ruben Vargas und Dan Ndoye hoffen. Auf einen Standard. Oder darauf, dass Xherdan Shaqiri trotz seiner Defizite im Fitnessbereich auch an seiner siebten Endrunde wenigstens noch punktuell etwas Magie versprüht. Und vorneweg ein Nationaltrainer, der nicht plötzlich in einem Achtelfinal mit Umstellungen im gröberen Bereich beweisen will, dass er der grösste aller Taktikfüchse ist.
Das klingt jetzt im Moment alles nicht sonderlich aufregend oder sexy. Aber das kann es werden. Dann, wenn die Schweiz plötzlich auch noch in der vierten Woche des Turniers mitspielt.
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