Gaslieferungen im NotfallSchweiz soll auch mit Frankreich und Italien verhandeln
Die Schweiz und Deutschland wollen ein Gasabkommen abschliessen. Wer muss wann seinen Verbrauch drosseln? Diese Frage könnte zur Knacknuss in den Verhandlungen werden. Derweil fordert die Branche weitere Abkommen.
Die Ankündigung weckt Erwartungen. Am Sonntag haben die Bundesräte Guy Parmelin und Simonetta Sommaruga mit dem deutschen Vizekanzler Robert Habeck vereinbart, dass die Schweiz und Deutschland ein Solidaritätsabkommen für Gaslieferungen im Notfall aushandeln.
Der Verband der Schweizerischen Gasindustrie begrüsst diesen Schritt, blickt aber bereits weiter. Präsident und FDP-Ständerat Martin Schmid hofft, dass solche Abkommen auch mit Italien und Frankreich gelingen und die Gasspeicher in Europa in den nächsten Monaten gefüllt werden können. «Das wäre ein weiterer Schritt zu mehr Energiesicherheit.»
Indes, das Gasabkommen mit Deutschland ist noch längst nicht unter Dach und Fach. Aus der Bundesverwaltung ist zwar zu vernehmen, dass sich eine «zeitnahe» Aufnahme von Verhandlungen mit Deutschland abzeichne. Eine mit der Materie vertraute Person sagt aber: Entscheidend werde sein, ein «gemeinsames Verständnis» dafür zu entwickeln, welche Massnahmen die Schweiz und Deutschland auf ihrem eigenen Territorium ergriffen haben müssen, ehe das Abkommen aktiviert wird. Welche Branchen müssen den Verbrauch im Notfall drosseln, welche einstellen? Müssen auch die Haushalte sparen, und falls ja, wie ernst muss die Lage dafür sein?
Komplexe Kontingentierung
In Deutschland wird die Frage, wer bei einer Mangellage noch Gas bekäme und wer nicht, schon seit Wochen intensiv untersucht. Klaus Müller, der Präsident der dafür zuständigen Bundesnetzagentur, vermittelte letzte Woche in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» einen Eindruck davon, wie komplex jede Kontingentierung wäre.
Leiden müsste in Deutschland vor allem die energieintensive Grossindustrie: Chemie, Stahl, Glas, Keramik und Ähnliches. Laut Müller gibt es in dieser Kategorie nicht weniger als 2500 Unternehmen. Hier je nach volks- und betriebswirtschaftlichem Schaden bei Gasmangel oder -ausfall Versorgungsprioritäten festzulegen, sei extrem schwierig, so Müller. «Wir sind da nahe an einer volkswirtschaftlichen Gesamtsteuerung.» Entsprechend schwierig könnte es auch sein, gemeinsam mit Nachbarländern wie der Schweiz in der Sache ein «ähnliches Verständnis» zu entwickeln – eine Voraussetzung für jedes Abkommen.
Gleichzeitig ist aus Berlin zu vernehmen, dass angesichts eines möglichen Ausfalls von russischem Gas der Solidaritätsgedanke in Europa heute sehr viel stärker verbreitet sei als vor Russlands Überfall auf die Ukraine. Dafür spricht auch die Tatsache, dass die deutsche Regierung in einem neuen Energiesicherungsgesetz, das letzte Woche vom Bundestag verabschiedet wurde, im letzten Moment einen Passus einfügte, der ausdrücklich auch Notfallabkommen mit Nicht-EU-Mitgliedern wie der Schweiz vorsieht. Im Entwurf des Gesetzes von Ende April hatte diese explizite Rechtsgrundlage noch gefehlt.
Das Wirtschaftsministerium von Vizekanzler Robert Habeck arbeitet derzeit mit hohem Druck daran, unabhängiger von russischem Gas zu werden. Das gelingt unter anderem durch mehr Bezug von Flüssiggas aus anderen Weltregionen, meist über Terminals in Belgien und den Niederlanden. Im Dezember soll zudem ein erster mobiler LNG-Terminal im deutschen Wilhelmshaven ans Netz gehen, ein zweiter im Januar. Je mehr Gas in Deutschland vorhanden ist, umso besser wäre dies im Hinblick auf den nächsten Winter auch für die Schweiz.
Der Bundesrat seinerseits hat die Gasbranche verpflichtet, Speicherkapazitäten in den Nachbarländern zu sichern, und zwar im Umfang von 15 Prozent des jährlichen Gasverbrauchs in der Schweiz. Zusätzlich sollen sie in Frankreich, Deutschland, Italien und den Niederlanden in etwa demselben Umfang Optionen für nicht russisches Gas erwerben, die sich bei Bedarf kurzfristig abrufen lassen.
Derweil laufen in der Schweiz die Arbeiten zu einem Notfallkonzept, das festlegen soll, wie der Bund bei einer Kontingentierung im Detail vorgeht. Basis ist eine Art Stufenplan, der aus dem Jahr 2019 datiert. Demnach gäbe es zuerst Sparappelle an die Bevölkerung. Gleichzeitig könnte der Bund den Firmen mit Anlagen, die mit Gas oder Heizöl laufen können, vorschreiben, auf Heizöl umzustellen. In einem weiteren Schritt könnte er das Gas für grosse Verbraucher ohne solche sogenannten Zweistoffanlagen kontingentieren und notfalls deren Stilllegung anordnen. In einer dritten Stufe wären auch die privaten Haushalte betroffen und müssten ihren Gasverbrauch mindern.
Das zuständige Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) erklärt auf Anfrage, die Schweiz berücksichtige dabei auch aktuelle Entwicklungen wie etwa Massnahmenpläne seiner Nachbarländer. Die Arbeiten sollen Ende Sommer abgeschlossen sein.
Politisch umstritten
Politisch gibt der geplante Deal mit Deutschland zu reden. Nationalrat Christian Imark (SVP) versteht nicht, was die ganze Übung bringen soll: «Da wir das Erdgas ohnehin grösstenteils via Deutschland beziehen, sind wir von Deutschland abhängig, aber Deutschland nicht von der Schweiz.» Entweder habe der Bundesrat zusätzliche Fakten, die er der Öffentlichkeit bisher vorenthalte, oder es handle sich um einen weiteren «Heissluftballon» von Sommaruga.
Etwas anders tönt es von Politikern anderer Parteien. Für Ständerat Damian Müller (FDP) macht ein Abkommen «sehr viel Sinn». Nationalrat Nicolo Paganini (Die Mitte) findet, grundsätzlich seien alle Vorkehren zur Bewältigung einer Gaskrise zu begrüssen. Es sei aber zu früh, das erst noch auszuhandelnde Abkommen abschliessend beurteilen zu können.
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