Die Schweiz und der Nahostkonflikt Grosse Nervosität in der Deutschschweiz – Romandie bleibt gelassener
Evakuierung des Bundeshauses, Räumung am Flughafen Basel, Demoverbote: Die Deutschschweizer Behörden sind angespannt. In Lausanne dürfen Tausende auf die Strasse gehen, und auch Genf sieht keinen Grund zu Besorgnis.
Am Mittwochmittag, der Bundesrat hat gerade getagt, läuft ein Mitarbeiter der Bundespolizei Fedpol mit gesenktem Kopf im Hecken-Labyrinth vor dem Bundeshaus umher. Er hält inne, verschwindet kurz hinter einem der Büsche. Wenig später kommt ein Kollege dazu. Plötzlich Aufregung, einer der Männer rennt los und holt ein Absperrband, der andere weist aufgeregt Passanten weg. «Ein verdächtiger Gegenstand», lautet die knappe Erklärung. «Halt, halt, halt», ruft der Polizist, als eine Frau neben dem Absperrband durchgehen will. Er rennt ihr winkend entgegen. «Hier dürfen Sie nicht durch.»
Kurz darauf ist aus dem Westflügel des Bundeshauses ein durchgehendes Pfeifen zu hören. Alle raus! Evakuierung.
Alarm wegen verdächtiger Gegenstände gibt es in Bundesbern in letzter Zeit häufiger. Aber es ist erst das zweite Mal in fünf Jahren, dass das Gebäude deshalb evakuiert wird. (Kleine Randnotiz: Für die Evakuierung des Bundeshauses West ist die Bundeskanzlei zuständig. Für das Parlamentsgebäude die Parlamentsdienste. Für das Bundeshaus Ost das Verteidigungsdepartement. Hallo, Schweiz! Und ein kleines Stossgebet an den Gott der Bürokratie: Möge beim nächsten Notfall die zuständige Person bitte da sein.)
Die Evakuierung des Westflügels des Bundeshauses ist nicht der einzige Notfall. In ganz Europa sind die Behörden seit dem Angriff der Hamas in Israel angespannt. Auch bei uns. Tags darauf wird der Basler Flughafen (der auf französischem Boden liegt) wegen einer Bombendrohung geräumt. Die Evakuierungen passen in die aktuelle Gesamtlage. Die ist: nervös.
Nicht behördenseitig, wie die Basler Sicherheitsdirektorin Stephanie Eymann (Liberale) sagt. Nervosität sei kein guter Ratgeber. «Bei der Bevölkerung spüre ich verständlicherweise schon, dass nach den Angriffen in Israel eine Verunsicherung da ist. Es sind viele Emotionen da, manchmal auch Wut.» Das alles müsse in die Lagebeurteilung der Kantonspolizei einfliessen.
Das Resultat dieser Lagebeurteilung ist ein Verbot sämtlicher Kundgebungen in Basel für das kommende Wochenende. In der aktuellen Situation sei eine Dynamik entstanden, die sehr diffus und unübersichtlich sei. «Darum haben wir das Demoverbot erlassen», sagt Eymann. Ihren Entscheid habe sie in «enger Absprache» mit Bern und Zürich gefällt, wo ebenfalls Demonstrationen verboten wurden – allerdings nur jene, die im Zusammenhang mit der Lage in Israel und Palästina stehen.
Ein «schwerwiegender Eingriff»
Das Verbot in den grossen Deutschschweizer Städten ist eine Premiere – in pandemiefreien Zeiten. Und ein «schwerwiegender Eingriff in die Versammlungsfreiheit», wie der Basler Staatsrechtler Markus Schefer sagt. Aber: kein a priori verfassungswidriger Eingriff. «Die Behörden müssen einfach nachvollziehbar erklären können, warum das Verbot nötig war.» Das sei bis jetzt zu wenig geschehen, sagt Schefer. Spätestens im Nachhinein müsse man wissen: Wurde hier überbissen, oder war das Verbot gerechtfertigt? Schefer ist auch sehr dafür, dass der Entscheid von Eymann durch das Bundesgericht überprüft wird.
Felix Uhlmann, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Zürich, kommt zu einem anderen Schluss. Er hält den Entscheid für «schwer nachvollziehbar». «Ein Demonstrationsverbot ist dann gerechtfertigt, wenn die Städte konkrete Befürchtungen haben, dass die öffentliche Sicherheit nicht gewährleistet werden kann oder mit Straftaten einer gewissen Schwere zu rechnen ist.»
«Natürlich gilt die Meinungsäusserungsfreiheit. Aber es gibt kein Recht, jede Woche zu demonstrieren.»
Ein allgemeiner Hinweis auf die angespannte Lage, wie etwa in Basel, reiche als Begründung nicht aus. Zudem seien die Behörden verpflichtet, jedes Gesuch einzeln zu prüfen. Eine Demonstration mit 10’000 Personen sei nicht dasselbe wie eine Mahnwache mit 200 Teilnehmern. «Unerträgliche Meinungen muss man aushalten, wenn sie nicht die Schwelle zum Rassismus überschreiten oder zu Gewalt aufrufen. Das ist der Preis der Meinungsäusserungsfreiheit.»
Stark ausgelastete Polizei
Der Berner Sicherheitsdirektor Reto Nause (Mitte) sagt, das Verbot gelte für dieses Wochenende, danach werde die Lage neu beurteilt. Die Stadt Bern habe eine «randvolle Agenda», die Polizei sei stark ausgelastet. Nause zählt auf: Die Lichtshow Rendez-vous Bundesplatz allein ziehe 15’000 Personen an. YB trifft auf den FCZ, «ein Hochrisikospiel», dazu kommt ein Eishockeymatch – und es sind Wahlen.
Ausserdem müssten Botschaften und jüdische Institutionen zusätzlich geschützt werden. «Die Lage ist wirklich ausserordentlich.» Nause betont auch, Bern habe letzten Samstag bereits eine Pro-Palästina-Demonstration bewilligt. «Natürlich gilt die Meinungsäusserungsfreiheit. Aber es gibt kein Recht, jede Woche zu demonstrieren.»
Während der Pandemie gingen Massnahmengegner allerdings fast wöchentlich auf die Strasse. Dazu sagt Nause: «Oft waren diese Demos nicht bewilligt, und wir haben sie auch regelmässig aufgelöst.»
Bern habe das Verbot unabhängig von Zürich und Basel verhängt. Mit den anderen beiden Sicherheitsdirektorinnen habe er sich «ausgetauscht, mehr nicht», so Nause.
Das Zürcher Sicherheitsdepartement, geleitet von Karin Rykart (Grüne), schreibt, bei «konkreter Gefahr von gewaltsamen Tumulten und schweren Sachbeschädigungen» müssten Gesuche für Demonstrationen nicht mehr einzeln beurteilt werden. Die Frage, ob es konkrete Hinweise auf Gefahren gebe, beantwortet das Amt jedoch nicht – «aus sicherheitspolizeilichen Gründen».
Die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) und die «Jüdische Stimme für Gerechtigkeit in Israel/Palästina» wollten in Zürich eine Kundgebung «für einen gerechten Frieden» abhalten. Ihre Forderungen: die sofortige Freilassung der verschleppten israelischen Geiseln, die Schaffung humanitärer Korridore für die palästinensische Zivilbevölkerung und ein Stopp der Gewalt.
«Wir beharren auf dem in der Verfassung verankerten Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit.»
Über das Verbot zeigen sich die Organisatoren irritiert. Dass eine Kundgebung mit humanitären und friedenspolitischen Inhalten verboten werde, sei «höchst fragwürdig», schreiben sie, zumal man Hasspropaganda, Rassismus und Antisemitismus nicht toleriere. Zur Betonung des friedlichen Charakters hätten die Teilnehmenden Trauerkerzen mitbringen und eine Schweigeminute für alle Opfer abhalten sollen.
Anja Gada, politische Sekretärin bei der GSoA, sagt: «Wir beharren auf dem in der Verfassung verankerten Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Gerade in diesen Zeiten ist es enorm wichtig, dass die Zivilbevölkerung in der Schweiz sich mit Betroffenen von Gewalt und Krieg solidarisieren und für Menschen- und Völkerrecht einstehen kann.»
Das Organisationskomitee sucht nun ein neues Datum für die Kundgebung.
Nicht alle wollen sich an das Verbot halten
Nicht alle wollen sich an das Verbot halten. Eine Gruppierung namens «Palästina Komitee Zürich» ruft in den sozialen Medien für Freitagabend zu einer Kundgebung auf, unter dem Slogan «Stoppt den Genozid in Palästina».
In Bern, wo letztes Wochenende noch eine Pro-Palästina-Demo bewilligt wurde, ist das Verständnis für die Behörden grösser. Zitieren lassen will man sich damit allerdings nicht. Eine Teilnehmerin der letzten Demo sagt, sie habe angesichts der vielen Anlässe an diesem Wochenende Verständnis für das Verbot – solange es zeitlich beschränkt sei.
Grosses Verständnis für das Verbot hat man beim Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG): «Ich kann verstehen, dass die Behörden sich Sorgen machen vor möglichen Übergriffen auch in der Schweiz. Wir müssen tatsächlich darauf achten, dass hier keine Aggressionen entstehen, dass die Leute nicht aufgestachelt werden», sagt SIG-Präsident Ralph Lewin.
Und in der Romandie? Dort bleibt man gelassen. Demonstrieren ist erlaubt. In Lausanne fand am Donnerstag eine Pro-Palästina-Kundgebung statt, in Genf rufen kirchliche und freikirchliche Kreise für Samstag zu einer Pro-Israel-Kundgebung auf – die ebenfalls bewilligt wurde.
«Genf ist eine internationale Stadt und eine Stadt des Dialoges», sagt Laurent Paoliello, der Sprecher des zuständigen Genfer Departements. Auf der Place des Nations werde fast täglich demonstriert, für die unterschiedlichsten Anliegen.
«Wir halten die Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit hoch», sagt Paoliello. Solange sich die Organisatoren an die Gesetze und Bedingungen hielten, gebe es keinen Grund für ein Verbot. Zu den Bedingungen gehöre zum Beispiel, dass nicht zu Hass aufgerufen werde. Und die Genfer Polizei lässt mit Blick auf die Kundgebung vom Samstag verlauten: «Wir verfolgen die Lage aufmerksam, bleiben aber ruhig.» Bei den bisherigen Kundgebungen zum Krieg im Nahen Osten habe es keine Probleme gegeben.
Was ist in Bern nach der grossen Aufregung beim Bundeshaus passiert? Die zwei verdächtigen Gegenstände waren ein Rucksack und ein Koffer, wie die Kantonspolizei Bern dieser Redaktion mitteilt. Der Mann, der mutmasslich beides in der Hecke deponiert hatte, wurde am Mittwoch vorläufig festgenommen.
Die Staatsanwaltschaft hat ein Verfahren eröffnet, wegen «Schreckung der Bevölkerung». Laut der Kantonspolizei können dem Mann strafrechtliche Konsequenzen und hohe Kosten drohen. Dabei sei es egal, ob die Gegenstände aus «böswilliger Arglist oder aus Jux deponiert oder gar vergessen wurden». Hinweise auf einen «möglichen Zusammenhang mit den Ereignissen im Nahen Osten» gebe es bislang keine.
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