Tödlicher SonderwegSchweden wollte die Alten schützen – und scheiterte
Der Schutz von Risikogruppen wurde zum zentralen Punkt des schwedischen Sonderwegs. Nun zeigt sich, warum das schiefgelaufen ist.
Als Schweden sich aufmachte auf seinen Sonderweg in der Corona-Krise, da gab es ein Versprechen an die Alten im Lande: Man werde eine Mauer um sie bauen. Allen war klar: In einer Gesellschaft, die beim Abstandhalten auf Freiwilligkeit setzte statt auf Verbote, mussten die Risikogruppen besonders geschützt werden.
Der Schutz der Alten wurde zu einer zentralen Säule des schwedischen Kurses erklärt. Und spätestens kurz vor Ostern war klar: Dieser Teil der Strategie war «katastrophal gescheitert», wie das Boulevardblatt «Aftonbladet» schrieb, sonst ein treuer Befürworter der schwedischen Linie.
Schweden zählt am Montag mit 3256 Corona-Toten mehr als dreimal so viele Todesfälle durch Covid-19 wie seine Nachbarn Dänemark (529), Finnland (271) und Norwegen (219) zusammen. Und Statistiken des Nationalen Amts für Gesundheit und Soziales von vergangener Woche zeigen, dass weit mehr als die Hälfte der Todesfälle gezählt wurden in Alten- und Pflegeheimen und unter Menschen, die zu Hause von Pflegediensten betreut wurden. Die Zahlen waren auch hier weit grösser als in den Nachbarländern. Schweden habe «die Alten geopfert», titelte der staatliche finnische Sender YLE einmal auf seiner Website.
Schwedens sonst weiter selbstbewusste Behördenvertreter gestehen mittlerweile an diesem Punkt ihr Scheitern ein. Allerdings geben sie dabei gerne ihre «Überraschung» zu Protokoll, wie das auch am Wochenende der Chef der Gesundheitsbehörde, Johan Carlson, in einer Talkshow tat: Keiner habe gewusst, wie schlimm es um den Zustand der Altenpflege im Lande bestellt gewesen sei, sagte Carlson.
Papierservietten dienten als Mundschutz
Keiner ausser all den Leuten, die sich auskennen mit Schwedens Altersheimen. Jeder habe wissen können, dass es «so kommen würde», sagte Ingmar Skoog, ein Göteborger Professor für Altern und Gesundheit, im April der Nachrichtenagentur TT. Die Corona-Krise habe nur die Mängel blossgelegt, die seit Jahren System seien.
Einsparungen und Privatisierungen in dem Sektor haben dazu geführt, dass es in Altersheimen an allem fehlt. «Die hatten dort Papierservietten und bostitchten Gummis dran, das waren ihre Gesichtsmasken», berichtet eine Ärztin in Schweden von Bekannten, die in Altersheimen arbeiten. «Wir waren das schlechteste aller nordischen Länder, als es darum ging, unsere Alten zu retten», schreibt «Aftonbladet»: Die Privatisierung des Sektors sei in Schweden viel weiter gegangen als in den Nachbarländern. «Gier und Privatisierung erweisen sich nun als tödlich.»
Die Regierung untersucht nun, was schiefgelaufen ist. Kritiker verweisen auf einen ganzen Strauss an Fehlern: die hohe Fluktuation bei schlecht bezahlten Altenpflegern, die auf Stundenlohn arbeiten und es sich nicht leisten können, zu Hause zu bleiben, wenn der Hals kratzt. Die Tatsache, dass dieses Personal nie getestet wurde auf Covid-19. Oder die Tatsache, dass die Gesundheitsbehörde die Gefahr durch asymptomatische Ansteckungen nie ernst genommen hatte. «Der grösste Fehler war, dass sie dem Personal in den Heimen immer nur sagten: Bleibt zu Hause, wenn ihr euch krank fühlt», sagte die Autorin und Virologin Lena Einhorn.
Gestorben ohne einen Angehörigen an der Seite
Die Behörden haben erkannt, dass sie die Lage in den Altersheimen schnell in den Griff bekommen müssen. «Daran hängt nun alles», sagte auch Staatsepidemiologe Anders Tegnell. Ansonsten drohten dem Land zwischen 8000 und 20'000 Tote, glaubt der Mathematiker Tom Britton von der Universität Stockholm.
Die Regierung betont, sie habe inzwischen strenge Massnahmen eingeleitet. Die Infektionszahlen in den Heimen scheinen nun tatsächlich gesunken, wie momentan auch die im ganzen Land. Und Ministerpräsident Stefan Löfven versprach, «die Bedingungen in der Altenpflege zu verbessern», ohne Details zu nennen.
Wirklich verantwortlich dafür, wie das Virus unter den Alten in den Heimen gewütet hat, scheint sich aber im Moment niemand zu fühlen. Man werde «als Gesellschaft gemeinsam Verantwortung» übernehmen, sagte Sozialministerin Lena Hallengren auf SVT. So leicht wollen Kritiker die Regierung nicht vom Haken lassen.
Der Journalist Björn Hygstedt sprach auf demselben Sender von seiner Wut. Hygstedts 92-jähriger Vater hatte sich in einem Altersheim mit Corona infiziert und war gestorben, ohne einen Angehörigen an seiner Seite zu haben. Hygstedt hatte einen viel gelesenen Text über den Tod seines Vaters geschrieben. Und er ist sich sicher: Es ist die Schuld der Behörden. «Ihr Versagen hat so viele Leben gekostet.»
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